Kolumne Denkanstoß Alles digital oder was…

Mönchengladbach · Leben geht nur analog, sonst hätte uns Gott als Avatare erschaffen, schreibt unser Autor: Wo bleiben die, die alt sind und niemanden haben, der beispringt?

 Warum wird für elementare Lebensvollzüge ein Internetzugang vorausgesetzt, fragt unser Autor.

Warum wird für elementare Lebensvollzüge ein Internetzugang vorausgesetzt, fragt unser Autor.

Foto: dpa-tmn/Christin Klose

Auch in einem verregneten Sommer steht Gartenarbeit an und ich liebe es, wenn sich Nachbar „Schmitze Wolfi“ an den Zaun stellt und ein Gespräch beginnt. Wolfgang Schmitz, so sein richtiger Name, wohnt seit gefühlten Ewigkeiten mit seiner „Marliese“ neben meinem Elternhaus, das sich, wie Kenner anhand der Namen messerscharf schließen werden, in der Nähe von Köln befindet.

Neulich war es wieder soweit. Ich reinigte den Rasenmäher, da trat er an den Zaun. „Hör mal“, begann er (wie er stets beginnt), „die Welt wird immer bekloppter“ (er sagt seine Meinung gerne frei heraus und kommt rasch zu Sache). „Neulich war ich mich testen. Da stand eine alte Frau vor mir, die wollte sich einen Termin geben lassen, weil sie keinen Internetzugang hat. Und was war: Nix war! Das Mädel im Testzentrum war überfordert und weil die Frau auch niemanden mit Internetzugang kannte, zog sie wieder ab.“ – Von dem Problem hatte ich schon gehört: Termine nur per Internet. Hat ja jeder. Oder etwa doch nicht?

Neulich bekam ich Post von meiner Bank, sie wollte Daten abgleichen. Ich dachte mir in meinem gereiften Leichtsinn, ich rufe da einfach an und kläre das, aber ich kam nur bis zu jener vertrauten Maschinenstimme, die mich zu einer zu wählenden Nummer lotste. Nach drei weiteren Nummern sagte mir die nette weibliche Maschinenstimme: „Bitte gehen Sie über www.etc...de und so weiter.“ Und dann die Krönung: „Waren Sie mit dieser Auskunft zufrieden?“ – Mein „Nein“ war etwas laut, ich gebe es zu.

Tut mir leid, ich bin „analog“ und „bio“ – mit jeder Körperzelle. Das Ganze fing damit an, dass man bei fast jeder Firma, mit der man telefonierte, statt seinen Namen die Kundennummer sagen sollte. Jetzt hatte ich diese nicht immer zur Hand, was den Menschen am anderen Ende der Leitung bisweilen zu der Auskunft bewegte: „Dann kann ich Ihnen leider nicht helfen.“ Normalerweise werde ich mit meinem Namen angesprochen und ich weigere mich hartnäckig als Kunde mit einer Nummer identifiziert zu werden. Da werde ich grundsätzlich!

Wo sind wir hingekommen, wo doch gegenseitiger Respekt von allen Seiten eingefordert wird? Wo sind wir hingekommen, dass für elementare Lebensvollzüge wie einen Coronatest in Testzentren ein Internetzugang vorausgesetzt wird? Wo sind wir hingekommen, dass man übers Internet einer großen Bank seinen Geburtsort nennen soll und nicht im persönlichen Gespräch? Wo bleiben die, die alt sind und niemanden haben, der beispringt?

Nachbar Schmitz verstand die Welt nicht mehr. Er ist 20 Jahre älter als ich, alles andere als blöde, vielleicht nur ein wenig zu „bio“ und zu „analog“. Da sind wir uns einig: Leben geht nur so. Sonst hätte uns der liebe Gott als „Avatare“ erschaffen. Das Wort meint eine künstliche, virtuelle Figur in einem Computerspiel. Sie stirbt, wenn der Strom ausfällt. Soweit ist es mit uns noch nicht. Leben geht anders! Und der Kuss meiner Frau hat eine ganz andere Klasse als ein Smiley per Mail. So ist das auch mit dem Bier von Wolfi am Zaun...

Der grinste: Früher war nicht alles schön, aber drei Dinge waren besser: Die Jahre waren länger, die Kilometer kürzer und die Schwerkraft nicht so ausgeprägt (besonders morgens zieht sie nach unten). Dann gingen wir wieder an unsere sehr analoge Arbeit: Nachbar Schmitz harkte den Vorgarten und ich das Kräuterbeet. Und roch das Gras und sah die Blumen. Spätsommer und ein paar Mücken tanzten im warmen Licht. Irgendwie aus der Zeit gefallen und doch so echt und schön! Leben eben.

Kurz danach deinstallierte ich ein paar Apps und nahm mir vor, wieder ganz analoge Briefe an liebe Bio-Menschen zu schreiben. Da war doch mal was, das gab´s doch mal – und es war so schön!

Karl-Heinz Bassy ist Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Großheide.

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