Mönchengladbach Messerscharfes Timing im Carmen-Ballett

Mönchengladbach · Robert North inszeniert Prosper Mérimées Novelle "Carmen" als hochdramatisches Ballett der Leidenschaften. Spanisches Temperament beherrscht die Atmosphäre – sogar ein "Stier" stellt sich zum Kampf in der Arena.

 Pas de deux der Leidenschaften: Alessandro Borghesani als Don José und Elisa Rossignoli (Carmen) in einer Liebesszene der "Carmen"-Choreografie von Robert North.

Pas de deux der Leidenschaften: Alessandro Borghesani als Don José und Elisa Rossignoli (Carmen) in einer Liebesszene der "Carmen"-Choreografie von Robert North.

Foto: Matthias Stutte

Robert North inszeniert Prosper Mérimées Novelle "Carmen" als hochdramatisches Ballett der Leidenschaften. Spanisches Temperament beherrscht die Atmosphäre — sogar ein "Stier" stellt sich zum Kampf in der Arena.

Schon nach den ersten Takten Musik spüren wir: Dieses Stück kann getrost auf Bizets Musik verzichten. Für die tanzend erzählte Geschichte "Carmen", die Prosper Mérimée 1845 als Novelle veröffentlichte, ist die furiose, rhythmisch treibende Musik des Briten Christopher Benstead vollwertiger Ersatz. Und für eine Ballettfassung sogar besser geeignet. Das Flair des Flamenco und seiner vokalen Ausprägung im andalusischen Cante Jondo kommt hier noch authentischer zur Geltung als in Bizets gesungener Habanera. Drei kundige Gitarristen und ein großes Orchester bestimmen die erzspanische Klanglandschaft.

Ballettdirektor Robert North hatte sich die Musik von Benstead, einem Komponisten, der auch als Tänzer und Sänger Erfahrung hat, eigens schreiben lassen. Bei dieser "Carmen" kann sich der amerikanische Choreograf nun richtig ausleben — und auch das hochmotivierte, bestens vorbereitete Ensemble.

Zwei weitere Inspirationsquellen nutzten North und Kostümbildnerin Luisa Spinatelli für ihre Choreografie: Bilder und Grafiken von Goya und Gustave Doré inspirierten zu pittoresken Szenarien: So beginnt der zweite Teil mit einem volkstümlichen Kinderchor: Fünf Roma-Frauen in bunten Festkleidern werfen eine uniformierte männliche Puppe in die Luft, die auf einem ausgebreiteten Bettlaken liegt. In der Vorlage von Goya sind es vier Frauen. Die unberechenbare Femme fatale Carmen gehört den "Zigeunern" an, sie verteilt ihre Liebe freigebig, aber nie unter Druck oder Zwang. Das endet tragisch: Nach Szenen voller Koketterie, Erotik und Leidenschaft tötet der vom bürgerlichen Weg abgerutschte Soldat José (Alessandro Borghesani) seine Geliebte mit einem Messerstich. Damit endet der überaus vielgestaltige Auftritt der höchst geschmeidig agierenden Solotänzerin Elisa Rossignoli. Ihre Carmen betont dabei eher den Aspekt der Kindfrau. Die dämonische, ja magische Natur dieser Frau, die auf Konventionen pfeift und allein sich selbst treu bleibt, kann Rossignoli nicht über Ansätze hinaus vermitteln. Dennoch fasziniert ihr Spiel.

Ihr ebenbürtiger Partner Alessandro Borghesani bleibt im Charakter blasser, am stärksten ist seine Wirkung in den Hochtempo-Duellen, denen sowohl Carmens Ehemann García (Abine Leao Ka) als auch ein Offizier (Jorge Yen) erliegen. In den Eifersuchts-Fehden wirbeln die Messer. Und die Frauen, die Cigarreras in der Tabakfabrik, lassen ihre Aggressionen mit wütend vollzogenen Messerschnitten durch fiktionale Tabakblätter heraus. Auch Carmen hebt ein Messer gegen eine Arbeitskollegin, mit der sie Streit hat. Dagegen verlässt sich der Stier bei der Corrida auf seine überdimensional weit ausgespannten Hörner, die Abine Leao Ka eindrucksvoll mit gespreizten Zeigefingern ins Bild fügt. Schon muss der schwer verletzte Picador (edel: Takashi Kondo) aus der Arena getragen werden.

Das Messer wird zum allgegenwärtigen Instrument der Selbstbehauptung im sozialen Umfeld. Damit setzt North ein Symbol ein, das genau zur messerscharfen Botschaft der exaltierten Musik passt. Messerscharf ist auch das Präzisions-Timing, mit dem die Gruppen ihre lebhaften Figuren synchron ausführen. Sechs Tische variieren unterschiedlichste Raumgestaltungen — raffiniert. Dafür spendete das Premierenpublikum allen Mitwirkenden ausdauernd Beifall.

(RP)
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