Mönchengladbach Mehr Kirchen werden schließen

Mönchengladbach · Regionaldekan Ulrich Clancett erklärt, wieso er Joachim Gauck für einen guten Bundespräsidenten hält, , warum die Kirche unbequem sein muss, weshalb auch in Zukunft Gotteshäuser werden schließen müssen und warum er Grabeskirchen skeptisch sieht.

 gionaldekan Ulrich Clancett erwartet, dass man sich auch in Zukunft von Kirchen wird verabschieden müssen: „Wir können das volle Programm nicht mehr in jedem Stadtteil vollziehen.“

gionaldekan Ulrich Clancett erwartet, dass man sich auch in Zukunft von Kirchen wird verabschieden müssen: „Wir können das volle Programm nicht mehr in jedem Stadtteil vollziehen.“

Foto: Hans-Peter Reichartz

Herr Clancett, es sind schwierige Zeiten für die Kirche: Man hört von Mitgliederschwund, man liest, das Gemeinden zusammengelegt oder ganz geschlossen werden müssen. Was ist denn die Stärke der Kirche in der heutigen Zeit?

Ulrich Clancett Es gibt aktuell kein schöneres Beispiel als das von Joachim Gauck. Gauck ist Theologe und ein Mann der Kirche. Ihm traut man zu, Antworten auf die Fragen zu finden, die die Menschen sich heute stellen. Das ist allerdings sehr personenabhängig. Die Institution Kirche hat in den vergangenen Jahren viel Vertrauen in der Bevölkerung verloren.

Warum war kein katholischer Geistlicher unter den Kandidaten?

Clancett Wir dürfen vonseiten des Kirchenrechts her keine politischen Ämter übernehmen. Es sei denn, der Heilige Vater macht eine Ausnahme.

Sie freuen sich aber, dass die Wahl auf Joachim Gauck gefallen ist?

Clancett Ja, in der Tat. Ich freue mich, dass der neue Bundespräsident eine Person ist, die wirklich von ihrer Biographie her etwas zu bieten hat. Joachim Gauck ist Deutschland. Bei ihm steht das Denken über das Leben in diesem Land im Vordergrund. Der christliche Hintergrund ist immer präsent bei ihm. Gauck ist ein guter Zuhörer, er ist sympathisch, menschlich und kompetent. Er wird allerdings nicht immer bequeme Antworten geben.

Gilt das auch für die Kirche heute: Muss sie unbequem sein?

Clancett Richtig. Die Kirche darf nicht bequem und angepasst sein. Angepasst in dem Sinne, dass wir uns irgendjemandem anbiedern.

Fehlen der katholischen Kirche solche präsenten und charismatischen Figuren wie Joachim Gauck?

Clancett Das mag sein. Allerdings halte ich sehr viel von Reinhard Marx, dem Erzbischof von München und Freising. Er hat sich große Verdienste erworben und sich mit seiner hohen Kompetenz als Sozialethiker in das gesellschaftliche Gespräch eingebracht. Marx ist aber auch jemand, der sich beim Oktoberfest oder bei den Schützen an den Tisch setzt und sagt: "Das nächste Bier geht auf mich!" Er kann auf die Menschen zugehen.

Sie sind auch jemand, der gute Kontakte zum Brauchtum pflegt...

Clancett Ja, das Feiern und die Freude gehören zum Leben. Ebenso wie das Fasten. Wenn man eines davon ausblendet, gerät man selbst in eine Schieflage. Die Kunst ist es, das Gleichgewicht zu halten. Das gilt insbesondere für meinen Beruf. Ich kann nicht der Partykönig sein, ohne zugleich auch als Kanalarbeiter immer wieder die Fundamente zu hinterfragen und zu prüfen.

Gewinnt man denn bei Schützenfesten tatsächlich Kirchengänger?

Clancett Jein. Ein wichtiges Thema ist das Vertrauen. Die Menschen müssen sehen, dass sie jemandem vertrauen können, dass sie mit ihren Fragen nicht alleingelassen werden. Es ist aber nicht so wie im Supermarkt: Ich bezahle, also bekomm' ich jetzt ein Pfund Zucker — ich feiere mit ihm, also geh ich jetzt auch in die Kirche.

Ich kann aber doch auch glauben, ohne in die Kirche zu gehen. . .

Clancett Sicher. Aber ein Wesensmerkmal der katholischen Kirche ist es gerade, den Glauben in der Gemeinschaft zu vollziehen. Das darf nicht ausgeblendet werden.

Sich den Menschen hinzuwenden, ihnen eine Heimat, ein Forum für die existenziellen Fragen des Lebens zu geben - das alles für sechs oder sieben Gemeinden auf einmal: Wie bewältigt man das?

Clancett Das ist tatsächlich ein Problem. Wir müssen lernen, dass weniger mehr ist. Der Bischof von Aachen spricht davon, dass wir geistliche Zentren schaffen müssen. Wir können das volle Programm nicht mehr in jedem Stadtteil, in jeder Kapelle, in jedem Dorf und Krankenhaus vollziehen. Schwierig ist es allerdings, den Menschen zu vermitteln, dass es auch Heimat sein kann, drei Straßen weiter den Gottesdienst zu besuchen. Ein Beispiel von mehreren in unserer Region: Wie bekomme ich einem Pescher beigebracht, dass die Messe etwa in Hardterbroich genauso schön ist wie in seiner alten, jetzt umgenutzten Heimatkirche? Das ist ein langwieriger und oft auch schmerzlicher Prozess.

Viele Menschen bedrückt es, wenn sie sehen, dass in ihrer Kirche jetzt geklettert oder gewohnt wird. Verstehen Sie das?

Clancett Ja. Wir mussten uns von einigen Kirchen verabschieden und werden das auch in Zukunft hier und da tun müssen. Aber ich halte nicht viel davon, aufgegebene Kirchen wie in den Niederlanden ohne Wenn und Aber abzureißen. So ein Projekt wie die Kletter- oder Wohnkirche würde ich stets bevorzugen. Bei den Grabeskirchen indes bin ich skeptischer.

Weshalb?

Clancett Es ist vorstellbar, dass es in nicht allzu langer Zeit Pfarrkirchen geben wird, in denen kein Trauergottesdienst mehr stattfindet. Es findet dann aus der Gemeinde keine irgendwie geartete Verabschiedung mehr statt. Alles wird delegiert. Natürlich ist das äußerst praktisch. Aber ein All-in-one-Service bei Bestattungen? Der Tod wird in unserer Gesellschaft immer mehr verdrängt. Da ist es fatal, Institutionen zu schaffen, die diese Denkhaltung auch noch perfektionieren.

Es eröffnen in Mönchengladbach drei neue Moscheen. Die Kirchen hingegen werden umfunktioniert oder geschlossen. Was wurde versäumt?

Clancett Der Vergleich hinkt. Man darf die Größenordnung nicht übersehen. Hinzu kommt, dass auch die anderen Religionen sich um ihren Nachwuchs sorgen. Das habe ich jetzt erst in Jerusalem erfahren. Da beklagte sich ein Araber bei mir, dass die jungen Leute nicht mehr in die Moschee kämen. Und alle fragen sich: Wieso ist das so? Glauben die Menschen nicht mehr?

Woran liegt es Ihrer Meinung nach?

Clancett Wir neigen dazu, das halbleere Glas zu sehen. Ich kenne viele junge Menschen, die glauben, die mit schwierigen Fragen ringen und die Antwort bei der Kirche suchen. Aber es stimmt, sie gehen selten zu Gottesdiensten.

Haben Sie Sorge, wenn Sie die gesellschaftliche Entwicklung sehen?

Clancett Ja. Wir erleben die vollkommen gegenläufige Entwicklung einer totalen Öffentlichkeit auf der einen und einer totalen Anonymisierung auf der anderen Seite. Mit Facebook zum Beispiel kann ich ständig online sein. Wenn ich will, könnte ich Sie fotografieren, wenn Sie betrunken in der Kneipe vom Stuhl fallen. Anschließend könnte ich das Bild für alle sichtbar ins Internet stellen. Man ist zu jeder Zeit überall greifbar. Gleichzeitig gibt es Menschen, die sich von ihrem realen Wohnungsnachbarn abwenden und im Virtuellen vereinsamen.

Ralf Jüngermann, Ruth Wiedner und Fabian Eickstädt führten das Gespräch.

(fae)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort