Premiere in Mönchengladbach Verzweifeltes Leuchten in der Finsternis

Mönchengladbach · Agnessa Nefjodow erzählt die Urfassung von Mussorgskijs Volksoper „Boris Godunow“ in eindringlichen Bildern, die allerdings nicht immer stimmig wirken. Mihkel Kütson leitet ein sängerisches und instrumentales Großaufgebot.

 Johannes Schwärsky in der Titelrolle begeistert durch einen dunklen, ergreifenden Heldenbariton, aber er löst auch Bestürzung aus, wenn er den zweifelnden Thronanwärter mimt.

Johannes Schwärsky in der Titelrolle begeistert durch einen dunklen, ergreifenden Heldenbariton, aber er löst auch Bestürzung aus, wenn er den zweifelnden Thronanwärter mimt.

Foto: Theater Krefeld-Mönchengladbach/Matthias Stutte

Am Anfang ist die Bühne schwarz vor Menschen. Dicht gedrängt füllen 70 Mitglieder der Theaterchöre die Spielfläche. Abbild der unberechenbaren, ständig in Bewegung gehaltenen Volksmasse. Am Ende stehen sie wieder an der Rampe – nun reglos, still, stumm, mit ernsten Mienen. Der Zar, der einen Mordauftrag gab, ist tot. Boris Godunow ist den Dämonen, die ihn in den Wahnsinn trieben, erlegen. Doch das Volk weiß, dass das Leben unter einem neuen „Gosudar“ (Herrscher) nicht besser wird.

Sobald das Solofagott mit einer klagenden Melodie die zweieinhalbstündige Urfassung von Modest Mussorgskijs „Boris Godunow“ eröffnet hat, sind wir im Sog der eigentümlichen Musik. Sie ist kraftvoll, ehrlich, ursprünglich in der Orchestrierung, selten verfeinert. Klänge, die ohne dekorativen Glanz bleiben, die roh, ungebärdig, gelegentlich holzschnittartig daherkommen. Dennoch fasziniert, was die Niederrheinischen Sinfoniker unter Mihkel Kütson im Graben veranstalten, denn diese Musik spiegelt  unmittelbar seelische Befunde der Handlung. Sie drückt die Zumutungen eines unfreien Lebens unter einem absolutistischen Herrscher in einem Riesenreich aus, in dem der Einzelne nichts gilt. In dem Hungersnöte, Feuersbrünste, Intrigen um politische Macht und Kriege an der Tagesordnung sind. Dies vermittelt das Orchester mutig durch kernig-markante Akzente.

Gegen diese düstere Welt setzt die deutsch-russische Regisseurin Agnessa Nefjodow ein Meer von Lichtern: Alle Akteure halten fahrbare Gerätschaften in Händen, schieben diese über den Bühnenboden. Die an Infusionsständer erinnernden Stäbe tragen oben eine Glühlampe. Doch der Anflug von Humor, den das Publikum beim Anblick dieser Lichtquellen empfinden mag, wird von der unwirtlichen Grundstimmung des 1869 vollendeten Musikdramas über die kurze Regentschaft des Zaren Boris (1598-1605) schnell aufgelöst. Komik bietet allein die Schenken-Szene im fünften der sieben Bilder, wo Matthias Wippich und Markus Heinrich als Bettelmönche dem Thron-Usurpator Dimitrij (Igor Stroin) begegnen. Wippichs Klosterbruder amüsiert durch urige Klangfarbe beim Singen im Halbschlaf und auch bei seiner Parodie eines Prahlhanses, der von einer Schlacht gegen die Tataren radebrecht: Fake News im 17. Jahrhundert! Alles in mustergültig einstudiertem Russisch. Einen Kniff, wie der falsche Dimitrij der Grenzstreife entkommt, hat die Regisseurin nicht zur Hand.

Anrührende Trauer trägt Sophie Witte als Boris‘ Tochter Xenia in der Sopranstimme, sie hat die einzige tragende weibliche Partie im Stück. Sonst dominieren Männer: Johannes Schwärsky in der Titelrolle begeistert durch einen dunklen, ergreifenden Heldenbariton, aber er löst auch Bestürzung aus, wenn er den zweifelnden Thronanwärter mimt, von Gewissensqualen heimgesucht wird und schließlich verendet. Boris, der mächtige Zar, wird, von Wahnvorstellungen gepeinigt, zum Sühneopfer. Wieso sein Sohn Fjodor mit zu Boden geht, bleibt unerfindlich. Ein respektables stimmliches Comeback gelingt Tenor Kairschan Scholdybajew als Fürst Schujskij. Hayk Dèinyan gibt dem Mönch Pimen kraftvolles Bassprofil. Als Einziger darf Rafael Bruck feineres Melos artikulieren.

Der imposante Großchor teilt sich in unterschiedlich besetzte Gruppen. Chordirektor Michael Preiser hat sehr darauf geachtet, dass die Sänger auf der von Eva Musil mit fahrbaren Wänden und Verhauen bebauten Bühne sich immer optimal klanglich in Szene setzen können. Eine Aufgabe, die immense Energie, Planung und Probenaufwand gekostet haben muss. Bravo!

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