Schwerpunkt Ensemblia Ein Wochenende der Experimente

Mönchengladbach · Ein wirres Durcheinander gab es nie - das scheinbare Chaos hatte immer System. Die Ensemblia begeisterte wieder das Publikum.

 Marc Romboy hat es aus Gladbach in die Metropolen der Welt gezogen. Als Techno-Senior ist er in der Szene eine große Nummer. Gemeinsam mit Ali Khalaj und Cellistin Anne Schumacher begeisterte er das Publikum. Ihr Auftritt im Museum Abteiberg war ein Highlight dieser Ensemblia

Marc Romboy hat es aus Gladbach in die Metropolen der Welt gezogen. Als Techno-Senior ist er in der Szene eine große Nummer. Gemeinsam mit Ali Khalaj und Cellistin Anne Schumacher begeisterte er das Publikum. Ihr Auftritt im Museum Abteiberg war ein Highlight dieser Ensemblia

Foto: Isabella Raupold

Musikschule Classic goes modern - da denkt man gequält an André Rieu oder bestenfalls an David Garrett. Doch dann kommt das Jugendsinfonieorchester der Musikschule mit dem mutigen Crossover-Projekt "ChaconniADE/Hard boiled Wonderband". Bei der Uraufführung in der KFH erleben rund 500 Zuschauer ein sinfonisches Techno-Konzert, das alles gleichzeitig ist: schön, verstörend, kraftvoll, intelligent und witzig. Der Komponist Rüdiger Blömer hat die zehnminütige romantische "Chaconne", die Tomaso Vitali zugeschrieben wird, in den Mixer geworfen. Das Ergebnis: Techno, Klassik, Rock und experimentelle Klänge prallen da aufeinander, frieren ein, preschen voran, bekämpfen sich, schließen für kurze Zeit Freundschaft. Doch all das wirkt nicht wie ein wirres Durcheinander, sondern das Chaos hat System. In der "ChaconniADE" steht kein Ton ohne Grund. Das Jugendsinfonieorchester, geleitet von Christian Maleskov, legt eine enorme Leistung hin. Die jungen Musiker spielen mit voller Energie, allen voran die extrem guten Schlagwerker. Selbst wenn sich alles zu einer wabernden Klangfläche ausweitet, bleibt das Orchester präzise.

Doch der eigentliche Star des Abends steht links oben über dem Orchester am Mischpult: DJ Korbinian Groll rhythmisiert die "ChaconniADE" mit wummernden Techno-Beats und brachialen Synthesizer-Klängen. Wenn er aufdreht, lässt der Lichtdesigner Nick Prokop im Puls der Musik grellbuntes Licht aufflackern. Und viele im Publikum zucken mit. Der DJ hat selbst früher im Jugendsinfonieorchester Horn gespielt. Seine klassische Ausbildung merkt man ihm an. Er ist in ständiger Kommunikation mit dem Dirigenten, seine Einsätze sind haargenau. Jede Stimmung des Orchesters spinnt er weiter.

 Die Pianistin Julia Kadel zeigte im Café Lax Legere wahre Größe: Sie spielte dieses Mal nicht auf einem Klavier, sondern auf einem E-Piano und nutzte dies zu spontanen Klangexperimenten.

Die Pianistin Julia Kadel zeigte im Café Lax Legere wahre Größe: Sie spielte dieses Mal nicht auf einem Klavier, sondern auf einem E-Piano und nutzte dies zu spontanen Klangexperimenten.

Foto: Raupold Isabella

Am Ende hat die "ChaconniADE" unsere Sicht auf Klassik und Techno verändert. Es gibt wohlverdienten Jubel und Ovationen. Silke Jüngermann-Schnettler

Schattenvögel Ensemblia ist übergriffig, immer schon beim nach Jahren ältesten Neue-Musik-Festival des Landes, und immer waren die Begegnungsprojekte zwischen bildenden, darstellenden Künsten und Neuer Musik Momente besonderen Erlebens. Brigitte Zarm ist mit ihren Feder-Vogel-Skulpturen schon viele Jahre dabei, es fügen sich die experimentellen Klänge zum Gegenständlichen ihrer Arbeiten.

 Mark Perretta und Stephen Mathewson zelebrierten das Unvollkommene. Am Ende war ihre Musik-Session weniger avantgardistisch, als man zunächst vermutet hatte.

Mark Perretta und Stephen Mathewson zelebrierten das Unvollkommene. Am Ende war ihre Musik-Session weniger avantgardistisch, als man zunächst vermutet hatte.

Foto: Raupold Isabella

In der performativen Inszenierung "Schattenvögel" hängen Zarms aus Karton gescherte, morbide deformierte Skelette von Sperlingsvögeln an filigranen Galgen metergroß im ehemaligen Altarraum von St. Elisabeth. Scherenschnitte, die Schatten werfen in den Chorraum mit seinen hohen Säulenbögen, auf die sandsteinerne Kreuzigungsgruppe. Hoch in die Kuppel hat Kai Welf Hoyme, Gladbachs Videokünstler, die (am Rechner) abgehackten, stetig um sich kreisenden Bewegungen eines Vogelschwarms projiziert, schwarzweißer chaotisch konstruktiver Fluss, dessen Flug beginnt mit dem Einsatz der Musik, die Gladbachs Elektroniker unter den Komponisten, Markus Bongartz, aus Vogelstimmen kondensiert hat. Aus ums reichliche Publikum postierten Lautsprechern schnattert, keckert, krächzet, grummelt es. Minutenlanges Tönen, Schwärmen um die zeichenhaften Totenflieger, deren Schatten und Gestalt Scheinwerfer in wechselnde Stimmungen tauchen. Von der ehemaligen Sakristei schreitet Gesa Hoppe in das minimalistische Setting, erhebt ihren wunderbar klaren, zu intensivsten Farben fähigen Sopran zu Liedern von Tod und Werden, vom Sterben und Aufbrechen in Unbekanntes. Von Orten, in einem Wechselspiel der Emotionen. Rezitation wechselt mit Sprechgesang und großer Kantilene. Der Raum singt mit. Eine Stunde. Intensiv, bedrückend, beglückend. Und einmalig Ensemblia.

Armin Kaumanns

 Das Jugendsinfonieorchester der Musikschule wagte sich an ein Crossover-Projekt und legte eine enorme Leistung hin.

Das Jugendsinfonieorchester der Musikschule wagte sich an ein Crossover-Projekt und legte eine enorme Leistung hin.

Foto: Detlef Ilgner

Julia Kadel Die Pianistin zeigte im Café Lax Legere wahre Größe. Nicht nur, weil ihre Tastenkunst zu den faszinierendsten Stilmischungen gehört, die man seit langem gehört hat. Auch, weil sie auf so unprätentiöse Weise mit den Gegebenheiten vor Ort umgehend, das Beste aus dem machte, was zu machen war. Der Veranstaltungsort, das Café, hat Charme - ohne Zweifel. Und es war sehr gut besucht. Bei Frühstück und Heiß- und Kaltgetränken erwartete man sehnsüchtig den Auftritt der Berlinerin, die sich mit ihrem ureigenen Stil schon in viele Herzen gespielt hat. Berühmt ist sie für ihre sensible Anschlagtechnik, ihre leichtfüßigen aber tiefen musikalischen Gedanken, die sie in Eigenkompositionen und beflügelten Improvisationen gießt. Für ihre, Jazz transzendierenden, Motive und Harmonien, für ihren Einfallsreichtum.

 In der Inszenierung "Schattenvögel" sang Gesa Hoppe in der Grabeskirche St. Elisabeth Lieder von Tod und Werden.

In der Inszenierung "Schattenvögel" sang Gesa Hoppe in der Grabeskirche St. Elisabeth Lieder von Tod und Werden.

Foto: Detlef Ilgner

Normalerweise ist sie gewohnt, ihre Tastenkunst an einem wahrhaftigen Klavier zur Blüte zu bringen, dies war bei ihren Auftritten im Rahmen der Ensemblia nur Tags zuvor im Schloss Rheydt möglich. Im Café ließ man sie auf ein E-Piano treffen. Dass die 1986 in Berlin geborene Pianistin und Komponistin trotzdem kam, und das Beste daraus machte, was aus so einem Instrument herauszuholen ist, spricht eben für jene Größe und ihre Liebe zum Publikum. Die Limitationen des schwarzen Kastens, überspielte sie bravourös. Spielte dabei kurzerhand mit den Klangeinstellungen und würzte so ihre Musik mit spontanen Klangexperimenten. Mal nutzte sie die Vielfalt der eingespeicherten "Instrumente", mal Halleinstellungen und dergleichen; machte aus der Not eine Tugend. Ihre Musik funktioniert auch so. Das macht wahre Größe aus!

Christian Oscar Gazsi Laki

Marc Romboy ist einer der Gladbacher, die es in die Metropolen der Welt gezogen hat. Als Techno-Senior ist er in der Szene eine große Nummer, produziert, komponiert und hat als DJ einen Spitzenruf, "rekonstruierte" zuletzt in Dortmund Debussy und hat sich von der Ensemblia zu einem Doppelkonzert ins Museum Abteiberg locken lassen. Bei "Reconstructing Beeps & Bleeps" gehen die Piepser, Aktionsgeräusche und Hintergrund-Dudeleien antiker, kultiger Computerspiele ein in den Klangkosmos des Soundkünstlers. Neben der Ensemblia-Gemeinde strömen die Fans. Ein Pac-Man-Monster linst vom Arbeitsplatz der Techno-Ikone ins Publikum. Das ist ein Tisch mit Macbook, Kabeln und einem Wirrwarr aus Synthesizern und Mischpulten, an denen neben Romboy noch Ali Khalaj wippend im Puls der magengrubenvibrierenden Bassbeats das Material mixt. Die Loops verdichten sich, türmen Schicht auf Schicht über unerbittliche Bässe.

Die Hände der Akteure regeln, was die Regler hergeben. Die Sounds blinken edel, stylisch, komplex und wandlungsfähig. Vier, fünf, acht Minuten Wellen der Ekstase, in wechselnden Farbzusammenstellungen und immer mit Verweisen an vergangene Computerzeiten. Schon bald finden Ulf Kleiner (Klavier) und Anne Schumacher (Cello) auf die Bühne, fügen ihre handgemachten Klänge ein in den mitreißenden Kosmos der Künstlichkeit, die sich improvisiert anhört, aber sehr genau verabredet ist. Das Cello bringt Melodie ins Spiel, das Klavier Percussion, jazzige Rhythmen und ebensolche Akkorde. Alles verschmilzt am Pult des Meisters, der zunehmend Körpereinsatz zeigt.

Fast zum Schluss der in Bauch und Bein gehenden Stunde wird's zwischen Klavier und Cello regelrecht jazzig. Dann beendet ein finales Fade-out mit Fingerspitzengefühl ein weiteres, begeisterndes Highlight dieser Ensemblia.

Armin Kaumanns

Perretta/Mathewson "Änderungen aller Art#3" ist schräg. Vielleicht so schräg, wie die Gesellschaft selbst, wenn man den schönen Lack abkratzt und das warme Ambience-Licht gegen einen hellen Reflektor austauscht, was alles unverstellt erstrahlen lässt. Werkstatt für Veränderung ist ein Ort, in dem Artefakte unserer Verschwendungsgesellschaft in Kunst transformiert werden sollen. Das Projekt läuft bis zum 5. August und ist in der Hindenburgstraße 19 zu besuchen. Wenngleich es - noch - nicht überbordend viel zu sehen gibt.

Dass dieser Ort sich wunderbar für ein Event bei Ensemblia eignet, liegt auf der Hand. Und dass man dazu auf Musiker zurückgreift, die nicht minder schräg als die Location sind, ist Ehrensache. Wobei Mark Perretta aus den USA und der Wahl-Wiener Stephen Mathewson nicht nur Musiker sind. Sie sind Künstler. Und das spürt man. Work in Progress, die Idee auch hinter ÄAA, das unvollkommene zelebrieren, sich am Fragment weiden und bewusst das Unfertige herausstellen, war bei ihrer Musik-Session Programm. Nachdem man sich gefühlte zehn Minuten mit einem offenbar wacklig verkabelten Mikro herumschlug - war das Teil der Performance? - ging es zur Sache. Überraschenderweise zeigt sich aber das, was musikalisch am Ende herauskam, doch weniger avantgardistisch, als man auf den ersten Blick vermuten mag. Relativ handfeste vorgefertigte Loops und Geräusche mischten die beiden zu einer guten Art Sound-Jazz-Words-Collage. Ob Gitarrenklänge oder melancholische Saxophon-Phrasen - richtig gut! Oder auch in das Mikro genuschelte tiefgründig anmutende Texte. Bedeutungsschwanger und zugleich ganz zwanglos kamen die beiden daher. Erfrischend unangepasst.

Christian Oscar Gazsi Laki

(RP)
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