Mönchengladbach Burkhard Spinnen und die Demenz seiner Mutter

Mönchengladbach · Der Autor schreibt über den Verfall der Mutter - und seine Verwirrung. Davon waren die Gäste im Rheindahlener Altenzentrum tief betroffen.

Er beschreibt mit Worten, was mit Worten eigentlich nicht zu beschreiben ist - die Demenz seiner Mutter. Burkhard Spinnen hat erlebt, wie sie sich veränderte. Sie, ebenso wie er, verdrängen die ersten Anzeichen der Krankheit. Wollen und können sich ihr nicht stellen. Die Beziehung zwischen Mutter und Sohn, bis dahin eher distanziert-abgeklärt, wird in dem Moment eng, als die Demenz ärztlich bestätigt ist. Das ist im November 2011. "Da beginnt meine Geschichte", sagt der Schriftsteller, der mit seiner Familie in Münster lebt. Sein Leben verändert sich dramatisch. Ständig fährt er zwischen seinem Wohnort und Mönchengladbach, wo seine Mutter im elterlichen Haus alleine lebt, hin und her. Er nennt die Krankheit einen Folterknecht, der sein Opfer fesselt, bevor die eigentliche Tortur beginnt - "damit es sich nicht wehren kann".

Der Autor hat ein Buch über die Demenz seiner Mutter geschrieben. "Die letzte Fassade" heißt es. Daraus las er jetzt im Altenheim Rheindahlen vor. Selten wird eine Lesung die Zuhörer - viele betroffene Angehörige war gekommen - derart berührt und aufgewühlt haben. Den Leidensweg seiner Mutter - mithin auch seinen - zeichnet Spinnen kompromisslos und wahrhaftig auf, er schont auch sich selbst nicht in der Beschreibung seiner grenzenlosen Hilflosigkeit und Überforderung. Er schreibt: "Meine Mutter hatte keinen Krebs, es traf sie nicht der Schlag, sie glitt vielmehr langsam in die Demenz und damit fatalerweise in einen Zustand, der sich weit außerhalb meiner Vorstellungen und Erfahrungen befand."

Der Sohn ist beleidigt, wenn die Mutter anders reagiert, als er es von ihr erwartet. Als er ihr etwa sein neues Auto vorführen möchte und sie sich in Erläuterungen ihrer Arbeit im Vorgarten ergeht, um sich unvermittelt abzuwenden, um wieder ins Haus zu gehen. Er weist sie ab, als sie nachts unter Panikattacken leidet und zu ihm ins Bett kriechen möchte - er fühlt sich hernach "elend und miserabel".

Ihm wird klar, dass seine Mutter rund um die Uhr Betreuung braucht. Burkhard Spinnen sieht sich gezwungen, eine Polin einzustellen, die bei seiner Mutter wohnt und sie Tag und Nacht betreut. Dabei ist ihm die Sache extrem suspekt. "Mit Sicherheit ging es doch um Schwarzarbeit. Außerdem empfand ich das Geschäftsmodell als politisch höchst inkorrekt: Sollten jetzt tatsächlich die Töchter und Enkelinnen derer, die 1939 von der Deutschen Wehrmacht überfallen worden waren, die greisen Okkupanten oder ihre Witwen für einen Sklavenlohn versorgen?" Die Konstellation mit der Polin wird zum Desaster. Ein Spuk, den er nach acht Tagen beendet.

Der letzte Ausweg ist die Unterbringung in einem Altersheim - in Münster, ganz in der Nähe des Sohnes. Als es dann so weit ist, holt er seine Mutter in Mönchengladbach ab. "Ich redete kaum mit ihr und vermied eisern jede Diskussion über das, was jetzt anstand. Stattdessen trug ich rasch den Koffer ins Auto und übernahm das altbekannte Ritual, vor dem Verlassen des Hauses alle Türen, Fenster und Lichtschalter noch einmal zu überprüfen. Was tatsächlich ein ganz einmaliger Vorgang war, musste unbedingt wie ein normaler Routinefall aussehen."

Unendlich traurig liest es sich, wenn Burkhard Spinnen diese Momente reflektiert. Er habe seine Mutter schützen wollen - vor der Gewissheit der Endgültigkeit. Der Autor stellt sich vor, wie viel würdiger - und rührender - der Abschied der Mutter von ihrem geliebten Haus hätte sein können. Statt dessen sei er ein letztes Mal die leicht hysterischen Routinen des Hausabschließens durchgegangen, "um anschließend meiner Mutter so etwas wie eine militärische Sicherheitsmeldung zu übermitteln".

Als Burkhard Spinnen das Buch über seine Mutter schreibt, ist diese schon drei Jahre im Altersheim. Ihr Leben ist eine ständige Abfolge von immer neuen Überforderungen und Verwirrungen, schreibt der Autor. "Jeder Tag ist ein Fall aus der Selbstverständlichkeit der geistigen Gesundheit, jeder Tag ist ein neuer Sturz in die Depression."

Burkhard Spinnen findet die richtigen Worte, um das Unbeschreibliche zu beschreiben. Diese Worte tun sehr weh.

(RP)
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