Mönchengladbach Konzertreise als Schule des Lebens

Mönchengladbach · Wer mit Chor und Orchester der städtischen Musikschule nach Florenz fährt, erlebt Erstaunliches. Zum Beispiel einen 100-jährigen Prior, eine Prozession mit Kontrabass und Polizisten, die für die Musik schon mal Gnade vor Recht ergehen lassen.

Mönchengladbach: Konzertreise als Schule des Lebens
Foto: Jüngermann

Eine 90-köpfige Reisegruppe der städtischen Musikschule reist nach Florenz. Und wer sich mit ihnen aufmacht, hat erst mal eine Menge Fragen. Zuallererst diese: Warum machen die das? Die Schüler, die sich um 9 Uhr zur Probe treffen, statt endlich mal auszuschlafen in den Herbstferien? Die ihre Instrumente auf dem Weg zum nächsten Auftritt durch die toskanische Spätsommer-Sonne schleppen, auch die Kontrabässe und sich dafür noch blöde Fragen anhören müssen (Jetzt würdest du lieber Querflöte spielen, oder?) Die Studenten, die schon lange gar nicht mehr im Jungen Vokalensemble singen oder im Streichorchester Intermezzo spielen und die trotzdem noch mal mitgefahren sind, obwohl sie eigentlich für die Uni lernen müssten? Und die Lehrer? Die seit Wochen vorbereiten, telefonieren, an der italienischen Bürokratie vorbei versuchen, Auftritte zu organisieren. Vor drei Wochen extra zur Vorbereitung vorab nach Florenz gefahren sind. Sich nun mit den Kindern und Jugendlichen 17 Stunden in den Bus setzen, in einem Hostel übernachten. Auch mehrere Musiklehrer, die gar nichts mit den beiden Ensembles zu tun haben, genau wie der Leiter der Musikschule, Christian Malescov, der sein Urlaubsziel kurzerhand so geändert hat, dass er auf dem Hinweg in die Ferien die Tage in Florenz mit begleiten kann. Warum tun sich die Lehrer all das an, die Rundgänge durch die Zimmer spätabends, um zu schauen, ob die Zehnjährigen sich nicht ängstigen und die 19-Jährigen auch brav genug sind? All das natürlich in ihrer Freizeit.

 Die jungen Musiker ernteten in Florenz viel Begeisterung - sowohl beim Konzert in der Kirche San Lorenzo (Foto unten) als auch beim Straßenkonzert auf dem Platz vor Santa Croce (oben).

Die jungen Musiker ernteten in Florenz viel Begeisterung - sowohl beim Konzert in der Kirche San Lorenzo (Foto unten) als auch beim Straßenkonzert auf dem Platz vor Santa Croce (oben).

Foto: Jüngermann

Wer zuhört, vor allem aber zuschaut, bekommt rasch Antworten. Die erste auf der Dachterrasse des Hostels mit Blick auf den Florentiner Dom. Es ist die gemeinsame Probe von Chor und Orchester vor dem ersten Auftritt in Florenz. Und binnen Sekunden wird aus einer ganz normalen Gruppe von Jugendlichen mit Kopfhörern im Ohr, Smartphones, Coolness und all dem, was auf dem Weg zum Erwachsenwerden unverzichtbar ist, wie von Zauberhand etwas anderes. Wenn Chorleiter Klaus Paulsen und Orchesterchef Harald Stöpfgeshoff dirigieren, stehen da plötzlich verwandelte junge Menschen. Konzentriert. Aufeinander achtend. Badend in der Musik. Mit einer Freude, die schon beim Zugucken gute Laune macht.

Am Abend dann Auftritt in San Lorenzo, einer der prächtigsten Kirchen in Florenz, die Medici haben sie finanziert. Die Schüler haben Handzettel gedruckt und in der Innenstadt verteilt. Doch das wäre gar nicht nötig gewesen. Denn als die Gruppe in ihrer festlichen schwarzen Konzertkleidung mit den Instrumenten auf den Rücken und Stühlen in den Händen in einer fröhlich schwatzenden Prozession durch die Innenstadt zieht, gibt es größtmögliche Aufmerksamkeit. Selbst die Busse und die Mopeds warten, ohne zu hupen. Und egal ob Einheimische oder Touristen aus Japan, China, der USA und Frankreich, alle wollen wissen: Wer seid ihr? Wo spielt ihr? Können wir kommen? Sie können - und erstaunlich viele tun es auch. Erst spielen Chor und Orchester im Gottesdienst eine Haydn-Messe. Der Prior, der die Messe hält und von zwei Helfern gestützt werden muss, ist unglaubliche 100 Jahre alt. Und begeistert von seinen drei Generationen jüngeren Gästen. Erst recht, als sich an die Messe das Konzert anschließt.

Die jungen Musiker lassen sich von der Pracht des Orts nicht erschrecken, sondern beflügeln. Sie spielen exakter und befreiter als bei jeder Probe, füllen den riesigen Raum nicht nur mit ihren Klängen, sondern vor allem mit ihrem inneren Leuchten. Da haben junge Menschen erkennbar eine Bestimmung gefunden, und es ist so berührend für die Zuschauer das mitzuerleben, dass sie den Abend nicht vergehen lassen wollen. Es gibt Ovationen, Bravo-Rufe, und immer wieder setzen sich die Besucher nach dem Klatschen hin voller Vorfreude auf weitere Stücke - obwohl der Zugabenblock längst zu Ende ist. Die Schüler wissen kaum, wohin sie sollen mit ihrer Freude, der eigenen und derjenigen, die sie auslösen. Nach dem x-ten mangels weiterem Programm zum zweiten Mal gespielten Stück fragt ein chinesisches Ehepaar: Wann und wo können wir euch das nächste Mal sehen? Sie lassen sich den Weg erklären zu der Kirche am anderen der Stadt, wo für den nächsten Morgen ein weiterer Auftritt vereinbart ist.

Tatsächlich sind sie dann dort und erleben mit, wie das verabredete Konzert ausfällt. Nein, nein, 90 Musiker in der Messe? Wie soll das gehen? In einer Stunde ist schon der nächste Gottesdienst. 45 Minuten hatten die Musikschüler ihr Equipment quer durch die Stadt geschleppt - und sind jetzt richtig sauer auf die Franziskaner. Bis dann zwei Italienerinnen, die das mitbekommen, für die Lösung sorgen. Ein Strassenkonzert auf dem Platz vor Santa Croce. Ist das erlaubt, fragt einer der Lehrer besorgt. Nein, sagen die Italienerinnen und fuchteln drohend mit den Armen: Sollen sie ruhig kommen, die Polizisten, wir kümmern uns. Das müssen sie dann nicht. Am Ende stehen mehr als 200 Zuhörer auf dem Platz, lauschen ein paar Lieder lang oder das ganze Konzert, klatschen begeistert. Und dann kommt tatsächlich ein Polizeiwagen. Die Beamten bleiben aber im Wagen und hören drei Lieder lang zu und rollen dann gemächlich weiter. Passanten fragen angesichts der Qualität: "Eine Musikschule? Es ist sicher sehr schwer, da aufgenommen zu werden." Videos landen im Internet.

"Wir sind berühmt", jubeln die Schüler. Auch für jugendlichen Größenwahn ist in Florenz reichlich Platz. Genau wie für die höheren Weihen der Kunstgeschichte. Was Klaus Paulsen den Musikschülern an Wissen über die Renaissance en passant verabreicht, gibt es so schnell, so kompakt und vor allem so live nirgends sonst. Uffizien, Dom, Santa Maria Novella, Gräber der Medici - all das nie ohne fachkundige und anekdotische Einführung.

Üben, zuhören, absetzen. Noch mal probieren, und noch mal und noch mal. Gemeinsam Großes für den Moment schaffen. Sich daran freuen. Und wieder ganz von vorn anfangen. Das lernen sie in der Musikschule, begleitet von Pädagogen, die viel mehr sind als einfach nur Musiklehrer. Wie all das viel mehr ist als nur Musik. Es ist eine Schule des Lebens. Darum also machen sie das alle. Die Schüler, die Studenten, die Lehrer.

Und auch darum: Abends beim späten Essen nach dem Konzert. Harald Stöpfgeshoff schaut durch die Reihen, erinnert sich an die wunderbaren Szenen in San Lorenzo und sagt mehr zu sich als zu den anderen: "Was haben wir für tolle Schüler!" Eine Stunde später fragt Klaus Paulsen zwei Elfjährige, was sie da hinter ihm tuschelnd machen. "Wir flechten Ihnen jetzt Zöpfe." Großes Gelächter. "Dazu ist mein Haar aber nicht lang genug, ihr Lieben." - "Stimmt, aber es hat noch ganz schön Volumen." Noch mehr Gelächter. Da wird die Elfjährige ganz ernst. "Herr Paulsen, Sie sind so cool."

So ergiebig, so respektvoll, so liebevoll kann Lehren und Lernen sein. Und um das zu begreifen, muss man halt manchmal 17 Stunden im Bus sitzen, Instrumente durch die Sonne schleppen und andererlei tun, was berechtigte Fragen auslöst. Die Antworten muss man erlebt haben!

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort