Kolumne Denkstoß Das Leben weben

Mönchengladbach · Haben wir uns an das neue Jahr schon gewöhnt? Schreiben wir schon flüssig und ohne großes Nachdenken „2020“? An den Jahreswenden wird uns deutlicher bewusst, wie schnell die Zeit vergeht. Und je älter wir werden, umso rascher scheinen sich die Jahre aneinander zu reihen.

Dies ist kein neues Phänomen, schon in Goethes Faust lesen wir vom „sausenden Webstuhl der Zeit“. Allerdings beruhigt uns diese Erkenntnis eher weniger, denn wir spüren alle, dass heute noch etwas anderes damit einhergeht und immer schneller sich vollzieht: Veränderung!

Die „Digitalisierung der Welt“ ist zur Chiffre geworden, die diesen rasanten Prozess beschreibt, und wir beobachten gleichsam atemlos, wie schnell und wie tiefgreifend der Wandel in alle Lebensbereiche hinein wirkt. Ob in der Politik oder in der Wirtschaft, ob am Arbeitsplatz oder in der Familie, ob in der Gesellschaft oder in der Kirche – überall sehen wir Wandel und Veränderung, kein Lebensbereich bleibt verschont. „Klimawandel“ ist nicht nur wortwörtlich, sondern auch im übertragenen Sinn verstehbar, spürbar. So stehen wir vielleicht verunsicherter als frühere Generationen am Beginn eines neuen Jahrzehntes und fragen uns, was die Zukunft an Schönem oder Schwerem wohl in sich birgt?

Niemand von uns weiß die genaue Antwort, aber Goethes Bild mag uns helfen! Denn wir sind es doch, die das Leben weben am sausenden Webstuhl; wir sind es doch, die das Webmuster mitbestimmen. Keiner von uns kann den Wandel aufhalten, doch jeder von uns kann dazu beitragen, dass Menschlichkeit das Grundmuster bleibt. In dieser Verantwortung, oder präziser, in dieser Pflicht steht jeder Einzelne von uns. Das Gesetzbuch allein kann es nicht schaffen, weil kein Gesetz die Gesamtwirklichkeit mit allen Möglichkeiten und ihren Auswirkungen erfassen kann. Es gibt immer „Gesetzeslücken“, die von findigen Menschen zu ihrem Vorteil ausgenutzt werden. Doch wo nur der persönliche Nutzen gesucht wird, da nimmt das Wohl Schaden; das Wohl der Anderen und letztlich auch das eigene. Diese Faustregel gilt im Großen wie im Kleinen.

Das Ethos des Einzelnen muss gestärkt werden, unser „ethischer Grundwasserspiegel“ muss steigen. Es bleibt gültig, dass wir nicht alles machen dürfen, was wir machen können. Wo wir diese Grundregel vergessen, treiben wir Raubbau nicht nur an der Natur, sondern mehr noch an der Menschlichkeit. Daher ist es unerlässlich, dass wir in unser Leben Gott hinein weben. Denn er ist es, der uns Kraft und Mut gibt, uns selber Grenzen zu setzen; der unseren Blick vom Ich auf das Du und Wir hin weitet; und der uns Hoffnung und Zuversicht zu einem Neuanfang schenkt. Er ist es, der uns erinnert, dass nicht die Veränderung der Welt die Bedrohung ist, sondern dass die Bedrohung in unserem Widerstand zur Veränderung zum Guten liegt. Wir alle sind gedungene Weberknechte und weben das Leben am sausenden Webstuhl der Zeit; wir alle sind freie Weberkünstler und können den Goldfaden Gottes in unser Muster weben.

Klaus Hurtz, Pfarrer von St. Marien, Rheydt, und vom Trostraum St. Josef Grabeskirche.

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