Mönchengladbach . . . ist da jemand ?

Mönchengladbach · Und dann war er plötzlich alleine: Unser Autor hat eine Nacht in der Münsterbasilika verbracht. Obwohl er nicht nach Gott suchte, hat er ein paar Antworten gefunden.

Eine Nacht in der Kirche
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Eine Nacht in der Kirche

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Worüber ich nicht schreiben werde: die Kälte und die Müdigkeit. Dass es im Winter in einer Kirche kalt ist, weiß jeder. Dass Menschen nachts lieber schlafen als wachen, auch. Über Demut werde ich ebenfalls nicht schreiben. Die Leute sagen immer, dass sie in einer Kirche demütig werden, aber ich glaube, das sagen sie nur, weil man es von ihnen erwartet. Demut ist außerdem nicht meine Stärke. Worüber ich schreiben werde: Vermutlich über irgendwas mit Hoffnung und warum es keine gute Idee ist, Gott zu sein. Aber erst später.

Samstagabend, 22 Uhr. Ich stehe vor der Münsterbasilika, in der ich die Nacht verbringen werde, ohne zu schlafen. Frau Hetzel schließt mir auf. Sie klingt wie eine Frau, der man das Rauchen nicht mehr beibringen muss. Die Küsterin führt mich durch einen Seiteneingang in die Kirche, zeigt mir, wo Toilette und Lichtschalter sind. Wo der Schalter für die Glocken ist, sagt sie mir nicht. Wenn die nachts läuten, denken die Leute, der Papst sei gestorben, sagt sie. "Und nachts kann wirklich niemand in die Kirche kommen?" "Nein, alles ist verschlossen. Nur ich komme heute Nacht mit einem Bettlaken wieder."

Das Geräusch Stille

Sie verabschiedet sich und zieht die Türen hinter sich zu. Dann ist Stille. Stille ist nicht die Abwesenheit von Geräuschen. Stille ist ein Geräusch, ein lautes sogar. Weil sie uns so unbekannt ist. Es ist ein bisschen so, als hielte ich mir eine Muschel ans Ohr. Nur ab und zu höre ich ein Auto. Die Lichter schalte ich aus, bis auf eines. Die Kirche liegt im Halbdunkeln. Dann setze ich mich auf eine Bank im Seitenschiff und hole meine Sachen heraus: eine Decke, ein Handy für Notfälle (aber nicht smart genug fürs Internet), eine Flasche Wasser, drei Äpfel, ein MP3-Spieler mit meinem Lieblingsalbum des Jahres und einem Hörspiel der "Drei Fragezeichen". Und dann noch eine Bibel. Die habe ich mir am Nachmittag gekauft. Wenn ich heute nicht in der Bibel lese, dann nie mehr.

Meine erste Runde durch die Kirche. An der Wand neben dem Taufbecken hängen zwei Leinwände, auf denen Regentropfen und Blumen aus Pappe befestigt worden sind. Auf jedem steht der Name eines Kindes, das in diesem Jahr getauft worden ist. Auf die Leinwand wurde auch ein Baum gemalt, an dem braune Blätter hängen, ebenfalls aus Pappe. Das sind die Menschen, die in diesem Jahr gestorben sind. Ich gehe weiter.

Am Eingang der Kirche liegt eine Kiste mit Baumanhängern aus Olivenholz, 1 Euro das Stück, daneben der Kasten mit den Gotteslob-Exemplaren. Als Kind besaß ich ein Gotteslob mit Goldschnitt und Lederhülle, in dem ich immer blätterte, wenn die Messe wieder besonders langweilig war. Meist blieb ich bei den Namenstagen der Heiligen hängen, und dann war auch schon Kommunion und danach Schluss. Gegenüber steht der Tisch mit den religiösen Kinderbüchern, "Mein buntes Messbuch", "Mein kleines Buch über Maria". Ich laufe das andere Seitenschiff entlang, vorbei an den Grabplatten einiger Äbte, bis ich zu einer Holzplastik gelange. Zu sehen sind zwei Frauen, eine von ihnen hat das Jesuskind auf dem Schoß sitzen. Die eine Frau könnte Maria sein, aber wer ist die andere? In der Gemeindezeitung werde ich es später lesen. Es ist Maria mit ihrer Mutter Anna, das Jesuskind sitzt auf ihrem Schoß. Die Bibel erwähnt Marias Mutter mit keinem Wort, auch ihren Mann nicht, der wirklich Joachim hieß. Ich gehe zum Kreuzaltar hinauf, stelle mich dahinter und blicke auf die leeren Stuhlreihen. Was ein Priester denkt, wenn zu seinen Gottesdiensten immer weniger Leute kommen? Nicht mal mehr an Weihnachten gehe ich.

Zurück auf meiner Bank. Mein Blick fällt auf die Treppe, die zur Krypta hinunterführt. Dorthin werde ich heute Nacht auf keinen Fall gehen. Es ist da stockfinster, und ich habe Angst, dass sich unten tagsüber jemand versteckt hat. Nicht sehr wahrscheinlich, aber der schlimmste Horror spielt sich sowieso in meinem Kopf ab. Es gibt hier einfach zu viele dunkle Ecken, immer wieder im Laufe der Nacht meine ich Schatten zu sehen.

Es wird Zeit für mein Bibelstudium. Die Bibel habe ich ausschließlich im Religionsunterricht gelesen, vor mehr als zehn Jahren. Die Hoffnung, in der Bibel Antworten auf meine Fragen zu finden — und davon hatte ich viele — war einfach zu gering. Damals war mir das nicht so klar, aber die Schöpfungsgeschichte gehört zu den schönsten, weil sprachlich schlichtesten Werken der Weltliteratur, ohne dass diese Schlichtheit banal wirkt. Danach aber kommen sehr viele Namen ins Spiel, wer von wem abstammt, und ich verliere die Lust. Das einzige, was hängenbleibt, ist die Tatsache, dass Adam 930 Jahre alt wurde. Vielleicht versuche ich es später noch mal.

Um kurz nach eins ist es vorbei mit der Ruhe. Stimmen dringen durch die große Holztür. Sie klingen nach jungen Männern, die vor der Kirche stehen, und weil sie angetrunken sind, sind sie auch laut. Sie krakeelen. Flaschen klimpern. Ein paarmal klingt es, als versuchten sie, die Tür zu öffnen. Ich erinnere mich an die Worte der Küsterin, dass niemand hineinkommt. So sicher bin ich mir da nicht. Was sie reden, verstehe ich nicht, weil es hier so hallt. Und näher zur Tür wage ich mich nicht, weil ich Angst habe, dass sie meine Schritte hören. Sauer bin ich auch. Sie haben mir meine schöne Stille genommen, die mir so liebgeworden ist, dass ich später nur ganz kurz den MP3-Spieler einschalte. Es ist zwar meine Platte des Jahres, eine sehr ruhige, aber sie ist mir zu laut. Was bin ich froh, als die jungen Männer wieder gehen.

Die Frage ist bloß: Ist dies eine Stille, die nur in einer Kirche möglich ist? Oder fände ich sie auch in einer Waldhütte oder einem Keller? Ich habe da so meine Überlegungen angestellt. Kirchen sind Gebäude mit Geschichte, sie stehen für einen Glauben mit Geschichte, und mir ist auch klar, dass nicht jedes Kapitel dieser Geschichte vorzeigbar ist. Es spielt auch keine Rolle, ob ich diesen Glauben glaube oder nicht. Schon das Wissen um die Vergangenheit macht aus der Stille eine Stille, die kein Keller bietet.

Ein Buch mit Fürbitten

Und dann ist da noch dieses Buch. Nicht die Bibel. Die schlage ich zwar noch einmal auf, aber es bleiben doch nur die kuriosen Zeilen hängen. Nein, das Buch, das ich meine, ist ein gebundenes Notizbuch, DIN A5. Es liegt auf einem Tisch in der Nähe der Krypta. Der Preis ist noch mit Bleistift hineingeschrieben, 3,99 Euro. Darauf klebt ein Papierstreifen mit der Aufschrift "Fürbittbuch". Menschen haben darin ihre Wünsche festgehalten. Es steht kaum Blödsinn drin, kein "I was here", nein. Sie wünschen sich eine feste Arbeitsstelle, das Ende von Krieg und Seuchen, sie wünschen sich Frieden, dass Nadine und Michael P. wieder zusammenfinden, dass die Schmerzen auf dem linken Auge von Mutter Elena gelindert werden. Eine Fürbitte klingt beinahe nach dem Anfang eines großen Romans: "Ich frage mich, warum und weshalb gerade ich mir einen Schlüsselbeinbruch zulegen musste, aber auch, warum ich meinen Vater erst vor kurzem kennengelernt habe." In das Buch hat aber auch jemand geschrieben: "Lieber Gott, ich habe keinen Bock mehr zu leben, lass mich sterben."

Diese Menschen haben Hoffnung, dass Gott sie erhört. Dass es etwas oder jemanden gibt, der über sie wacht. Diese Hoffnung ist auch Teil dieser Kirche. Ich bin nicht gut darin, Gott zu suchen, und erst recht nicht darin, ihn zu finden. Ich freue mich aber für jeden, der es wagt. Und wenn es diesen Gott gibt, dann möchte ich nicht mit ihm tauschen. Wie soll er all diese Erwartungen erfüllen?

Um kurz nach sechs verlasse ich das Münster. Ich schalte das Licht aus und blicke noch einmal zurück in die Dunkelheit. Ohne Angst. Ich ziehe die Türen hinter mir zu, laufe zum Alten Markt, dann die Altstadt hinunter. Es kommen mir die Versprengten der Nacht entgegen, sie sind laut. Zu laut für mich. Überall liegt Müll. Als sei ein Unwetter durch die Stadt gezogen, vor dem ich in meiner Kirche geschützt war.

Zwischen all den Menschen sehe ich ein Paar, das gerade damit fertig wird, sich zu küssen. Die Sonne wird trotzdem erst um 8.32 Uhr aufgehen.

(RP)
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