Mönchengladbach Im Himmel mit dem Bad Boy

Mönchengladbach · Der amerikanische Solist Cameron Carpenter, die neue Weimbs-Orgel in St. Marien und ein Publikum, das schier ausflippt: Dazu kommt es, wenn der 30-jährige Weltstar des Orgelspiels mit Provo-Image in Rheydt vorbeischaut. Carpenter spielte in Paillettenhemd und Hosenträgern.

 Kurz vor dem Anfang seines Konzerts ließ sich Cameron Carpenter am Spieltisch der Weimbs-Orgel in der Rheydter St.-Marien-Kirche

Kurz vor dem Anfang seines Konzerts ließ sich Cameron Carpenter am Spieltisch der Weimbs-Orgel in der Rheydter St.-Marien-Kirche

Foto: Hans-Peter Reichartz

Alles schwillt. Die deckenhohen Orgelpfeifen wissen gar nicht, wie ihnen geschieht, so rüttelt und schüttelt es, Luft und Materie beben in wilder Pracht, weil der Mann am Spieltisch das Pedal mit Füßen tritt. Immer noch ein Register, noch eine Stufe mehr beim Schwellwerk und noch, noch, noch. Fersen, Ballen tremolieren, Schuhsohlen qualmen, die nagelneue Weimbs-Orgel droht zu bersten. Cameron Carpenter ist in seinem Element.

Sicher nicht dem Gottesdienst oder der Ehre einer höheren Macht gilt die Kunst des amerikanischen Bad Boy der Orgel, der mit 31 schon als Lichtgestalt seiner Zunft gelten darf. Carpenter ist ein Rocker, ein Ego-Shooter. Paillettenhemd und Hosenträger sind seine Garderobe. Er stilisiert sich zum glitzernden Tier an den Tasten und verneigt sich anschließend mit fast schüchterner Dalai-Lama-Gebärde vor seinem euphorisierten Publikum.

Da mag Pfarrer Klaus Hurtz, Hausherr der gastgebenden Kirche St. Marien in Rheydt, noch so predigen von der beseelenden Kraft der Kunst — Carpenter macht einfach sein Ding. Und das Volk jubelt, pfeift, grölt. Der alttestamentarische Tanz ums Goldene Kalb dürfte kaum ausgelassener gewesen sein. Die Weimbs-Orgel macht ganz schön was her. Unter der himmelblau getünchten Beton-Faltdecke inszeniert sie sich als von innen leuchtendes Pracht-Instrument. Sie will Cameron gefallen, auch wenn sie nur zwei Manuale hat und für den großen Raum nicht übermäßig stark auf der Brust ist.

Aber der Bach kommt entzückend. Zunächst trainiert Cameron Fußarbeit — das Präludium aus der G-Dur-Cellosuite. Hübsch verzärtelt, dramatisch gesteigert, leitet es über zu einer Bach-Session mit Toccaten, Sonaten, Fantasien, Präludien, Fugen, Improvisiertem, Notiertem und Transponiertem. Alles an Cameron, der gleich zweifach per Kamera in den Chor gebeamt wird, ist in Bewegung. Die teils aberwitzige Polyphonie strömt ihm wie selbstverständlich aus Händen und Füßen; dazwischen findet er aber immer noch ein Zehntelsekündchen, um hier ein Register zu ziehen, dort das Fußpedal ein Stück steiler zu stellen. Nie bleibt ein Klang gleich, alles fließt, verändert die Farbe, die Dynamik.

Als Modulator ist Cameron ein Terminator. Das gilt auch für den Stil. Denn Cameron mag nicht bei Bach bleiben, zunehmend darf's auch ein bisschen Jazz, hier und da was Improvisiertes sein.

Im zweiten Teil steht Romantik an, grausam Virtuoses, im Pedal wird's vierstimmig, die Füße mutieren zu Paukenschlägeln. Man kommt aus dem Staunen nicht heraus. Die Reise streift Rummelplatz und Montparnasse, es quäkt und scheppert, säuselt und singt, dröhnt und jault in unerhörten Klang-Kombinationen. Und alles ist Musik, wilder, ungebändigter, ja: auch selbstverliebter Sinn in Sphären jenseits der Sprache. Der Himmel ist weit.

(ark)
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