Mönchengladbach Hildegard Wester: Hildes wilde Jahre sind längst vorbei

Mönchengladbach · Als Juso kämpfte die linke und ziemlich aufmüpfige Hildegard Wester gegen das Establishment. 1998 zog sie mit einem Erdrutschsieg für Mönchengladbach in den Bundestag, wurde stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD – und gelassener. Seit 2009 macht sie nur noch etwas Kommunalpolitik – und will sich nun bald ganz verabschieden.

 Jubel über gemeinsamen Erfolg: Hildegard Wester spielte in der Politik nicht nur bei den SPD-Männern richtig mit. Von links: Hans-Willi Körfges, Lothar Beine und Norbert Bude 1999.

Jubel über gemeinsamen Erfolg: Hildegard Wester spielte in der Politik nicht nur bei den SPD-Männern richtig mit. Von links: Hans-Willi Körfges, Lothar Beine und Norbert Bude 1999.

Es war die Nacht, in der die SPD buchstäblich auf den Stühlen und Tischen tanzte. "Wir sind aus dem Rheydter Rathaus um die Häuser gezogen, haben uns riesig gefreut. Die schönste Siegesfeier, die wir je gehabt haben. Das Highlight meines politischen Lebens", schwärmt Lothar Beine noch heute. Der 27. September 1998 war der Tag, an dem es im Bundestagswahlkreis Mönchengladbach so etwas wie einen politischen Erdrutsch gab: Die SPD nahm der CDU das Direktmandat für Berlin ab. Und es war eine Frau, die das in dieser Stadt jahrzehntelang für unmöglich gehaltene und bis heute einmalig gebliebene "Wunder" geschafft hat: Hildegard Wester.

Ursprünglich Lehrerin, 48 Jahre alt, attraktiv – und ein echtes "Mädchen" aus dieser Stadt, aus Rheydt, genauer gesagt. Die schon acht Jahre im Bundestag nicht nur gesessen, sondern gearbeitet und sich einen guten Ruf erworben hatte. Lothar Beine, ihr damaliger Mitstreiter als SPD-Unterbezirks-Vorsitzender und heutiger Fraktionsvorsitzender im Rat der Stadt, erklärt, wie es 1998 zu diesem "Erdrutsch" gekommen ist: "Es gab drei Komponenten. Einmal hatte Hildegard Wester acht Jahre gute Basisarbeit geleistet. Sie war bekannt in der Stadt, qualifiziert und geachtet. Dann gab es die politische Großwetterlage mit dem Wechsel von der Regierung Kohl zu Schröder. Dazu hatte die CDU in Mönchengladbach einen Kandidaten, der nicht die ungeteilte Unterstützung im eigenen Lager hatte."

Dieser Kandidat war Mönchengladbachs damaliger Oberstadtdirektor Dr. Jochen Semmler. Er kam dann auch bei der Wahl lediglich auf für hiesige Verhältnisse bis dahin eher kümmerliche 41,1 Prozent der Erststimmen, Hildegard Wester aber erhielt 47,7 Prozent. Bei den Zweitstimmen war die CDU, wenn auch nicht gewohnt souverän, aber doch noch Erster: 41,1 Prozent gegen 37,4 für die SPD.

Es war das Wester-Semmler-Duell, das diese Direktwahl entschied. Und ein Stück auch die Offenheit und Ehrlichkeit, die die SPD-Frau ausstrahlt. Sie war auch nicht die "wilde Hilde" aus ihrer Juso-Zeit ("Da stand ich schon ziemlich weit links und war ziemlich aufmüpfig"), als die sie der eine oder andere Altgediente in der SPD noch abstempeln wollte, als sie Ende der 80er Jahre dem Partei-Establishment kräftig auf die Füße trat: Eine Gruppe um Lothar Beine, den heutigen Landtagsabgeordneten Hans-Willi Körfges und Hildegard Wester wagte den Aufstand gegen die Parteiführung um Lothar Witek und Winfried Eßer. "Es gab ein deutliches Murren über die inoffizielle Koalition mit der SPD, die Selbstversorgungsversuche einiger Genossen, die Verschwendung von Geldern", erklärt Hildegard Beweggründe und Erfolg des "Aufstands".

Dessen Folge auch war, dass die SPD plötzlich einen Nachfolger für Lothar Witek als Kandidaten für die Bundestagswahl 1990 brauchte. Man kam ziemlich bald auf Hildegard Wester, die mit ihren neuen Vorstellungen zur direkten Beteiligung der Parteibasis maßgeblich zur Wende in Mönchengladbach beigetragen hatte.

"Ich war ziemlich überrascht, gerade schwanger und zunächst gar nicht begeistert", beschreibt die 62-Jährige ihre Stimmungslage. "Doch dann habe ich zugesagt. Nach Rücksprache mit meinem Mann Ulrich und meiner ältesten Tochter. Aber ich habe mir auch gesagt: Das klappt ja doch nicht, die Erfolgschancen stehen bei zehn Prozent."

Pustekuchen! Natürlich fegte die politisch unerfahrene ("Ich war nur Bildungsbeauftragte im Unterbezirks-Vorstand") und in der Bevölkerung ziemlich unbekannte Herausforderin einen gestandenen Politiker wie den Bundestagsabgeordneten Hans-Wilhelm Pesch nicht einfach so weg. Die 46,9 Prozent der Erststimmen für den CDU-Mann und die 35,5 für Hildegard Wester spiegelten die altbekannte Verteilung ebenso wider wie die 46,3 beziehungsweise 34,2 Prozent bei den Zweitstimmen. In den Bundestag kam sie trotzdem: über die Landesliste. "Meine Jungsozialistenzeit war noch nicht so lange her, dazu mal eine Frau – da hat man mir den Listenplatz 30 gegeben. Und der zog, weil die Grünen es nicht in den Bundestag schafften." Vier Jahre später sah das schon etwas anders aus, holte Wester bereits 40,7 Prozent. Und kam wieder über die Landesliste in den Bundestag. Und dann der Erdrutschsieg 1998 in Mönchengladbach, das Direktmandat.

Hildegard Wester hat ihr Leben umorganisieren müssen: Politik statt Schule. "Und meine Familie hat toll mitgezogen." Auch, als die Ehefrau und Mutter immer mehr Aufgaben erhielt, erst in Bonn, später in Berlin. "Aufgrund ihrer überzeugenden Arbeit hat Hildegard eine sagenhafte Karriere gemacht", sagt Lothar Beine: ab 1998 Sprecherin der SPD-Fraktion für die Themen Familie, Senioren, Frauen und Jugend, ab 2001 eine von sieben Stellvertretern des SPD-Fraktionsvorsitzenden Peter Struck, zuständig für Familie, Senioren, Frauen und Gesundheit.

Doch schon 2002 war plötzlich Schluss mit Bundestag. Die Mönchengladbacher CDU hatte mit Dr. Günter Krings einen neuen Kandidaten, der das Direktmandat holte. Hildegard Wester aber wurde das Opfer ihres Erfolgs. Die Landespartei hatte die Wahlsiegerin von 1998 "in Verkennung der Möglichkeiten" (Lothar Beine) nur auf Platz 24 gesetzt – und der zog nicht, weil die SPD zu viele Direktmandate holte.

Hildegard Wester kam zwar zwei Jahre später als Nachrückerin wieder in den Bundestag. Doch 2005 gab es eine neue "Großwetterlage": Kanzler Schröders Zeit war vorüber, es gab vorzeitige Neuwahlen. "Und wir wurden für die Bundespolitik abgestraft", sagt Lothar Beine. Hildegard Wester war wieder draußen. Am 1. April 2009 rückte sie zwar erneut nach, aber nur für ein halbes Jahr bis zur nächsten Wahl. Für die nominierte die Mönchengladbacher SPD Hermann-Josef Krichel-Mäurer als Kandidaten. "Das war ein bisschen unschön", sagt Hildegard Wester zu der Chance, die ihr nicht gegeben werden sollte. "Über die Gründe will ich nicht reden."

Die "wilde Hilde" von früher sieht heute manches anders: "Ich muss nicht mehr grundsätzlich alles bekämpfen, was zum Establishment und zur Kapitalseite gehört. Daraus entsteht nur Stagnation. Man muss die Seiten versöhnen, den Ausgleich der Interessen finden."

(RP)
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