Mönchengladbach Gekommen, um zu gehen

Mönchengladbach · Der Weg in den Tod ist kein leichter, aber in einem Hospiz muss ihn zumindest keiner alleine gehen. Ein Besuch in St. Christophorus.

Mönchengladbach: Gekommen, um zu gehen
Foto: Werner Krueper

Es ist ein früher Abend Ende Februar, vermutlich der letzte Februar, den Frau E. erleben wird, denn Frau E. ist schwer krank. Bereits zum dritten Mal hat der Lungenkrebs von ihr Besitz ergriffen, doch dieses Mal wird sie ihn nicht überleben. Für den Moment ist sie einfach froh, noch am Leben zu sein. "Vor zwei Wochen haben die Pflegekräfte wirklich um mein Leben gekämpft, da konnte ich merken, dass hier alle gut informiert sind. Das hätte ich kaum irgendwo anders überlebt", schreibt sie auf einen Zettel. Reden kann sie nämlich nicht mehr, da ihr vor einiger Zeit schon die Speiseröhre und der Kehlkopf wegen eines Tumors entfernt werden mussten. Das Schreiben strengt sie an, der Stift wirkt in ihren dünnen, zarten Händen unnatürlich groß.

Heute geht es ihr gut, zufrieden lächelnd sitzt sie halb aufrecht in ihrem Bett und raucht genüsslich eine Zigarette, während im Hintergrund eine Kochsendung im Fernsehen läuft. Sie ist frisch frisiert, ihre langen, grau melierten, geflochtenen Haare sind zu einem ordentlichen Knoten zusammengebunden. Der gesamte Raum ist bunt und fröhlich, voller Blumen und persönlicher Dinge. Neben ihrem Bett sitzt eine Schwester, denn Frau E. lebt in einem Hospiz. Bereits seit zweieinhalb Jahren ist dieses Zimmer ihr Zuhause. Rauchen ist hier auch nichts ungewöhnliches, dass Frau E. ihre geliebte Zigarette durch ein Tracheostoma, eine künstlich angelegte Öffnung im Hals, rauchen muss, allerdings schon.

Das St.-Christophorus-Hospiz an der Rathausstraße ist eines von mehr als 230 stationären Hospizen in Deutschland. Zehn Patienten, vielfach auch als Gäste bezeichnet, verbringen hier die letzten Tage ihres Lebens. Sie alle haben eines gemeinsam - sie wissen, dass ihre Zeit fast abgelaufen ist. "Wenn die Patienten hierher kommen, wird ihnen oft erstmals so richtig bewusst, dass es keine Hoffnung mehr gibt", erklärt Elvira Biallas, Leiterin des Hospizes. Zusammen mit 22 Angestellten und zehn ehrenamtlichen Hospizmitarbeitern betreut sie Menschen mit Krebs, Aids, ALS (Amyotrophe Lateralsklerose), Creutzfeldt-Jakob und Multipler Sklerose im Endstadium. Rund um die Uhr steht hier das Wohl der Patienten im Vordergrund, alles wird nach deren individuellen Bedürfnissen gestaltet. Nicht unbeaufsichtigt zu rauchen ist die einzige Regel, an die sich hier gehalten werden muss. "Das geht nicht anders, das schreibt der Brandschutz so vor und wir haben ja auch eine Fürsorge-Pflicht den anderen Mitbewohnern gegenüber. Dafür darf überall und immer geraucht werden", erläutert Biallas. "Wir nehmen die Menschen hier an, genau so, wie sie sind. Wer würde auch an einem Ort wie diesem noch erziehen?"

Besonders wichtig bei der Arbeit mit Schwerkranken und Sterbenden ist die besondere Empathie, genau zu spüren, was individuell gebraucht wird. Jeder einzelne Patient hat tiefgreifende Verluste erlitten, mit dem Schritt in ein Hospiz zuerst die Hoffnung und dann nach und nach die eigenen Fähigkeiten und die Selbstständigkeit. Plötzlich auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, ist für manche sogar schlimmer als die eigentliche Krankheit oder der bevorstehende Tod. "Unsere Motivation ist es, für unsere Bewohner jeden einzelnen Tag so angenehm wie möglich zu machen", bekräftigt Elvira Biallas. Seit 1999 arbeitet sie im St. Christophorus Hospiz - seit 2008 als Leiterin. Auch Frau E. gestaltet sich ihre Zeit so angenehm wie möglich. Sie ist gerade einmal 62 Jahre und schon seit acht Jahren akut erkrankt. Zuerst wurde sie von Mitarbeitern des Hospizes noch ambulant zu Hause betreut. Da sie allein lebte, war dies aber dann nicht mehr möglich und sie wurde stationär aufgenommen.

Zweieinhalb Jahre in einem Hospiz sind eine ungewöhnlich lange Zeit. In dieser hat sich ihr Zimmer in einen Spiegel ihres vorherigen Lebens verwandelt. Überall sind Bilder und Fotos vergangener Zeiten, die Fensterbänke sind mit Pflanzen in kunterbunten Töpfen geschmückt. An der Seite ihres Bettes stehen auf dem Nachttisch noch Reste ihres Mittagessens. Normal essen, trinken oder schlucken kann sie zwar nicht mehr, aber auf den Geschmack möchte sie dennoch nicht verzichten. So kaut sie immer mal wieder einen kleinen Bissen und spuckt ihn dann unauffällig in ein Tuch. Auf dem Klapptisch der anderen Seite ihres Bettes steht ein Laptop, auf ihrem Schoß liegen ein Block und ein Stift zur Kommunikation.

Für die Schwestern braucht sie diese Hilfsmittel jedoch nur selten, hier ist man so aufeinander eingespielt, dass es nicht mehr vieler Worte bedarf. Man liest ihr im wahrsten Sinne jeden Wunsch von den Lippen ab. "Hier geht es mir besser als vorher, es ist wie in einer richtigen Familie", schreibt sie. Währenddessen strahlen ihre Augen, trotz der Anstrengung des Schreibens wirkt sie glücklich und entspannt. Angst vor dem, was noch kommen mag, hat sie nicht. "Ich möchte nur nicht ersticken, das ist meine einzige Angst", notiert sie abschließend. Und sie findet es sehr schade, dass die Leute nicht besser über Hospize informiert seien.

Hospize, das sind Orte des Sterbens, aber noch viel mehr sind sie Orte des Lebens. Das erste Hospiz wurde 1967 in England von der Ärztin Cicely Saunders gegründet. "Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben." Dieser von ihr stammende Leitsatz prägt bis heute die Hospizbewegungen weltweit. Cicely Saunders und die Psychiaterin und Sterbeforscherin Elisabeth Kübler- Ross machten sich zur damaligen Zeit für die Bedürfnisse todkranker und sterbender Menschen stark. "Der Tod ist nur das Umziehen in ein schöneres Haus", dessen war sich Kübler-Ross sicher. Ihr halbes Leben saß sie an den Betten Sterbender.

Genau dieses Zeitnehmen für Menschen, die keine Zeit mehr haben, ist ein zentraler Bestandteil der Arbeit in einem Hospiz. Doch nicht nur die Zeit und die liebevolle Pflege sind wesentlich in der Arbeit in einem Hospiz, eine ebenso wichtige Rolle spielt die palliative Versorgung. "Die Dosierung spielt keine Rolle, uns interessiert nur das Ergebnis", erklärt der Palliativ-Mediziner Dr. Sascha Schuler in einem Fernsehinterview. Palliativ, das ist das Gegenteil der klassischen Medizin, die darauf ausgelegt ist, zu heilen. Bei palliativer Medizin geht es nur noch darum, zu erleichtern, Schmerzen zu nehmen und alle Symptome zu kontrollieren. Auch hohe Dosen starker Opiate gehören dazu, wichtig ist einzig und allein das Wohlbefinden der Patienten. Eine Abhängigkeit stellt bei Menschen vor dem Tod ohnehin kein Problem mehr dar. Dieses Bestreben kann bis hin zu einer palliativen Sedierung reichen, bei welcher der Sterbende in einen narkoseartigen Zustand versetzt wird, um ohne Leid und Qualen entschlafen zu können. Leiden muss niemand! In diesem Punkt sind sich alle in diesem Bereich tätigen Menschen einig.

Leiden möchte auch Frau B. nicht. Mitte Mai wurde bei der 64-Jährigen Lungenkrebs diagnostiziert, aus Zufall bei einer Routine-Untersuchung. "Seit meine Schwester mit 44 Jahren an Lungenkrebs gestorben ist, mache ich regelmäßig Vorsorgeuntersuchungen. 2003 hatte ich Brustkrebs, das hab ich auch vorher irgendwie gespürt, aber diesmal hat es mir den Boden unter den Füßen weggezogen", erzählt sie, während sie in ihrem Ohrensessel von daheim sitzt, aus dem Fenster schaut und an ihrer Zigarette zieht. Den Brustkrebs hat sie damals besiegt, beim Lungenkrebs wird ihr das nicht gelingen. Versucht hat sie es. Da weder Bestrahlungen noch eine Operation möglich waren, hat sie sich im letzten Jahr einer Chemotherapie unterzogen. Ihre nur Millimeter kurzen Haare sind noch ein Überbleibsel dieser Zeit. Die Chemo hat sie sonst gut vertragen, bis sie plötzlich von einem auf den anderen Tag keine Kraft mehr hatte. Bei der daraus resultierenden Untersuchung wurde eine Metastase im Gehirn gefunden, nach der Chemotherapie sollte diese mit Bestrahlungen behandelt werden. "Da hab ich gesagt, bei mir wird nix mehr gemacht, gar nix, auch keine weitere Chemo. Ich war einfach platt, ich konnte nicht mehr", erklärt sie mit Tränen in den Augen. Schnell nimmt sie eine Hand vor ihr Gesicht und rückt die Brille zur Seite. Es ist ihr sichtlich unangenehm und sie flüstert: "Ich war im Leben immer hart, ich kenne das so nicht."

Um sich zu fangen, wechselt sie das Thema. Ihre gesamte Familie sei an Krebs gestorben, viele habe sie gehen sehen, berichtet sie. Ihre Schwester habe sie sogar gemeinsam mit ihrer Nichte zu Hause betreut. "Das klingt jetzt vielleicht komisch, aber in ein Hospiz gehen, ich kann es jedem nur empfehlen", versichert sie. Einen Tag vor Heiligabend ist sie im St.-Christophorus- Hospiz eingezogen. Davor war sie erst im Krankenhaus und dann in einer Kurzzeitpflege in einem Pflegeheim. Doch diese fünf Tage seien für sie die Hölle gewesen, gibt sie zu. "Da wär ich kaputt gegangen! Aber da konnte von den Pflegern niemand was für, das ist das System."

Dieses System hat auch dazu geführt, dass Schwester Mariamma heute in einem Hospiz arbeitet. Die gelernte Krankenschwester konnte nicht länger mit der Art und Weise umgehen, mit der Sterbende im Krankenhaus oft behandelt werden. "Die Patienten waren meist allein, abgeschoben, hatten keine Ruhe", berichtet sie. Das habe sie nicht mehr länger ertragen können.

Hier im Hospiz haben die Schwestern noch Zeit für die Patienten. An einem Ort, an dem Zeit das kostbarste Gut der Welt ist, wird sie sich noch genommen. Der Tod ist zwar ein stetiger Begleiter in einem Hospiz, aber es dominiert das Leben. "Vor ein paar Jahren hat eine alte Dame hier ihren Beerdigungskaffee ausgerichtet und all ihre Freunde eingeladen. Schließlich habe sie ja nichts mehr davon, wenn sie tot sei", erzählt Schwester Marlene. Sogar eine standesamtliche Trauung habe es schon gegeben. Doch auch wenn man in jeder bunten Wand, in jedem fröhlichen Lachen und in jeder herzlichen Geste das Ja zum Leben spürt, wird in einem Hospiz dennoch gestorben. Rund zwei Prozent der jährlichen Todesfälle geschehen in einem Hospiz, in Deutschland sind das mehr als 17.000 Menschen jedes Alters. Für Kinder und Jugendliche gibt es sogar spezielle Einrichtungen, welche sich speziell auf die Bedürfnisse und Wünsche junger Sterbender eingerichtet haben, doch auch in jedem anderen Hospiz gibt es immer mal wieder sehr junge Patienten. Im St. Christophorus Hospiz wurde vor einiger Zeit ein vier Jahre junges Mädchen betreut.

"Angst vor dem Tod haben nur wenige, die meisten haben eher Angst vor dem Sterben", ergänzt Schwester Mariamma. Die meisten seien einfach auch froh, Hilfe zu bekommen und da sein zu dürfen. Die Angst vor dem Prozess des Sterbens ist es auch, die dazu führt, dass manchmal der Wunsch nach Sterbehilfe laut wird. "Klar kommt das vor, dass jemand fragt, aber nur sehr selten. Und wir erklären den Patienten dann bestimmt, dass wir das nicht machen, aber dass wir ihnen helfen werden, nicht leiden zu müssen", bemerkt Schwester Marlene.

Auch hier wird wieder deutlich, dass ein Hospiz sich als ein Ort des Lebens und nicht des Sterbens begreift. Seit Oktober letzten Jahres ist Sterbehilfe in Deutschland sogar unter Strafe gestellt, sollte diese in einer organisierten Form stattfinden, so wie es in der Schweiz alltäglich und akzeptiert ist. Die meisten Deutschen verstehen diese Entscheidung gegen die Möglichkeit, Sterbehilfe in Anspruch nehmen zu dürfen, nicht. Eine Mehrheit hätte sich sogar eine Entscheidung zu einer Regelung wie in der Schweiz gewünscht, fand das Meinungsforschungsinstitut Statista in einer Befragung heraus. So nachvollziehbar dieser Wunsch nach der Möglichkeit eines selbstbestimmten Sterbens auch ist, es zeigt doch sehr eindrucksvoll die Angst der Menschen vor dem Sterben und weniger vor dem Tod. "Früher hab ich auch so gedacht", erklärt Elvira Biallas. "Seit ich aber hier arbeite und weiß, wie es trotz tödlicher Krankheit sein kann, habe ich keine Angst mehr."

Angst hat auch Frau B. nicht. "Ich weiß, dass es irgendwann passiert, aber Angst hab ich keine, das muss ich ehrlich sagen", stellt sie fest. "Ich will nur hoffen, dass es dann schnell geht." Sogar um ihre Bestattung hat sie sich schon gekümmert, aber das war bereits vor ihrer Erkrankung. "Ich weiß, wohin ich komme", erzählt sie, während ihr Blick abwesend in die Ferne schweift. "Ich komme in die Grabeskirche St. Matthias in Günhoven. Was Saubereres gibt es doch nicht."

Einen schnellen und leichten Tod, wer wünscht sich das nicht? Nicht jedem ist er aber vergönnt, doch man kann vieles dafür tun, die letzte Reise so angenehm wie möglich anzutreten. Ein Hospiz ist ein Ort, an den die Menschen kommen, um zu gehen. Dieser Weg ist kein leichter, aber in einem Hospiz muss ihn niemand alleine gehen. Schon die Dichterin Mascha Kaléko endete 1945 ihr Gedicht "Memento" mit den Worten: "Bedenkt, den eigenen Tod, den stirbt man nur, doch mit dem Tod der anderen muss man leben."

Die Reportage entstand als Abschlussarbeit der Autorin an der Freien Journalistenschule Berlin.

(RP)
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