Lehrer-Kolumne aus Mönchengladbach Es muss nicht immer Abitur sein

Mönchengladbach · Als Lehrer bekommt unser Kolumnist es auch mit jenen Schülern zu tun, die eigentlich nicht fürs Gymnasium geeignet sind. Er findet: Tut euren Kindern das nicht an!

 Ein Schild in einer Schule. (Symbolbild)

Ein Schild in einer Schule. (Symbolbild)

Foto: dpa/Julian Stratenschulte

Es ist Dienstag 8 Uhr morgens, als ich vollbepackt meiner sechsten Klasse den Raum aufschließe. Alle Schüler sind aufgedreht und wuseln in die Klasse zu ihren Sitzplätzen. „Haben Sie die Arbeiten dabei?“, „Ich bin so aufgeregt!“, „Ich will meine Arbeit nicht zurück bekommen“, schallt es von allen Seiten.

Ich lege den Stapel Arbeiten auf den Tisch, begrüße die Klasse und beginne nach ein paar einleitenden Worten mit der Rückgabe der Arbeit. Dabei habe ich mir die Leute gemerkt, die eine echt gute Arbeit geschrieben beziehungsweise sich deutlich verbessert haben. Zu diesen gehe ich einzeln hin und lobe ihre tolle Leistung. Aber auch die nicht so guten Arbeiten merke ich mir. Hier muss ich trösten und die richtigen ermunternden Worte finden.

Selin* sitzt hinten, vor ihr die Arbeit. Sie weint. Wiedermals! Ich gehe zu ihr und versuche sie aufzubauen. Selin ist verzweifelt. Sie blickt mit Tränen in den Augen still auf ihr zugeklapptes Mathearbeitsheft. Schon wieder ist es nur eine Fünf geworden. Ihre Tränen fließen an ihren Wangen herunter. Ich setze mich neben sie, reiche ihr ein Taschentuch und versuche zu trösten.

Sie erzählt mir, dass sie so viel gelernt hat und zeigt mir ihr Übungsheft: Sie übt jeden Montag, Mittwoch und Freitag über eine Stunde für Mathe. An den anderen Tagen übt sie für Deutsch und Englisch. Auch dort sehen ihre Noten nicht viel besser aus. Zudem hat sie auch noch eine Nachhilfe.

Als ich so auf ihren Wochenplan schaute, den Selin mir unter die Nase hielt, und ich darauf sah, dass sie jeden Tag um 16.30 Uhr von der Schule nach Hause kommt, um dann täglich von 18 bis 19 Uhr nochmals zu lernen und am Wochenende für Arbeiten übt, konnte ich nur noch mit dem Kopf schütteln. Warum tun wir den Kindern nur solch einen Druck an? Wo bleibt deren Freizeit, deren Leben, deren Kindheit? Eigentlich hat Selin auch nur eine Realschulempfehlung bekommen, aber ihre Eltern sind sich sicher, dass Selin das Gymnasium schaffen kann. So sitzt sie nun hier und weint. Enttäuscht von ihren Leistungen und von sich selber.

Was soll ich ihr denn auf die Frage antworten, was sie denn noch mehr üben und lernen könnte? Soll ich ihr noch mehr Arbeitspensen mitgeben? Nein! Schon jetzt berichtet Selin mir, dass sie Angst vor Mathe hat, Angst vor den Arbeiten, Angst davor, wieder zu versagen. Ich mag nicht die Rolle als Richter und Henker. Warum zwingt man mir diese Rolle auf? Warum suchen Eltern nicht die angemessene Schulform für ihre Kinder aus? Warum denken alle, dass man unbedingt Abitur haben muss? Im Handwerk verdient man auch nicht schlecht, die Auftragslage ist gut und es gibt viele unbesetzte Lehrstellen.

Aber auch für Eltern ist es nicht leicht. Immerhin möchte man das Beste für seine Kinder. Das verstehe ich. Aber ist das Abitur wirklich eine verlorene Kindheit wert? Eine Kindheit voller Arbeit, Selbstzweifel und Enttäuschungen. Nein!

So sitze ich ratlos neben Selin und rede ihr beruhigend zu. Um uns herum wuselt die Klasse. Die Schüler zeigen sich gegenseitig Arbeiten, freuen sich, trösten sich und erklären sich untereinander Lösungen.

Felix Nattermann ist Mathe- und Informatiklehrer am Gymnasium am Geroweiher und Autor vom Buch „Gebt den Kindern die Verantwortung zurück“. Foto: Semmer
*Name geändert

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