Kunst-Kolumne Von Nimmerland nach Neuschwanstein und zurück

Mönchengladbach · Was haben eigentlich Walt Disney und König Ludwig II. miteinander zu tun. „Sehr viel“, findet unsere Kolumnistin und nimmt uns mit auf eine spannende Spurensuche.

 Kunsthistorikerin Anna-Lisa Katthagen-Tippkštter

Kunsthistorikerin Anna-Lisa Katthagen-Tippkštter

Foto: bauch, jana (jaba)

Kürzlich gab es einen dieser Momente, dem wir als Eltern seit der Geburt unseres Kindes entgegenfiebern: Wir schauten mit unserem Sohn Erik den ersten Disneyfilm! Über den Film – Peter Pan – waren wir uns schon lange einig. Einzig der passende Zeitpunkt fehlte noch. An einem verregneten Sonntag mit verschnupftem Kind war es endlich soweit. Eingekuschelt mit Erik im Arm wurde mir wieder bewusst, dass gerade die frühen Werke – Schneewittchen (1937), Pinocchio (1940), Dumbo (1941), Cinderella (1950), Peter Pan (1953), Dornröschen (1959) – bis heute nichts von ihrem Reiz eingebüßt haben. Allein, wie die Filmmusik die Szenerie unterstreicht, jede Bewegung untermauert und die Emotionen transportiert und intensiviert, belegt, wie fesselnd Zeichentrickfilme sein können. So wie Erik vor Spannung quietscht, wenn ein leises „Tick-Tack“ die Ankunft des nach Kapitän Hook lüsternen Krokodils ankündigt, packt mich bis heute die Furcht vor Schneewittchens böser Stiefmutter, wenn sie sich in eine alte Hexe mit rotglänzendem Giftapfel verwandelt.

Doch zurück zur gestalterischen Ästhetik, denn auch aus kunsthistorischer Perspektive sind die Welten, die Walt Disney+ und seine Zeichner erschufen, hochgradig spannend. 2008 widmete sich eine Ausstellung in der Kunsthalle München den Wurzeln von Walt Disneys wunderbarer Welt in der europäischen Kunst. Eindrucksvoll wurden Bezüge zu Literatur und Filmkunst dargelegt und sowie Disneys Faible für Architektur und Szenerie, auf deren detaillierte Gestaltung er ebenso viel Wert legte wie auf die Ausarbeitung der einzelnen Charaktere. Ein Aspekt ist mir besonders in Erinnerung geblieben: die Bezüge, die sich zu König Ludwig II. von Bayern herstellen lassen. Der Augenscheinlichste ist die Ähnlichkeit von Schloss Neuschwanstein mit den Schlössern aus Schneewittchen und Dornröschen. Ludwig II. lebte von 1845 bis 1886 und trägt den Beinamen „Märchenkönig“. Ab 1869 ließ er Neuschwanstein errichten und in ihm vereinen sich auf plakative und ästhetische Weise diverse Merkmale mittelalterlicher Burgenarchitektur, zum Beispiel finden sich Elemente der Wartburg wieder. Die Innenausstattung orientierte sich an den Bühnenbildern der Wagner-Opern. Die hohen Türme, Schießscharten und Zinnen erfüllen allein dekorative Funktionen. Hierdurch wird Neuschwanstein zum Stein gewordenen Symbolträger des „Schlosses“ und erfüllt damit die gleiche Funktion wie die Schlossdarstellungen in oben benannten Filmen. Wer kennt nicht das ikonische Schloss-Logo zu Beginn eines jeden Disney-Filmes, dieses Sinnbild für den Beginn einer märchenhaften Zeichentrickreise? Doch nicht allein das Schloss lässt Brücken in Disneys Zeichenstudios schlagen. Die Parkanlagen um Schloss Linderhof etwa bergen ein Ausstattungskleinod, welches wir im Film Schneewittchen wiederentdecken. Ludwig II. ließ im Maurischen Kiosk – einem orientalisch gestalteten Pavillon, der ursprünglich Teil der Weltausstellung 1867 in Paris war – einen kostbaren Pfauenthron aufstellen. Dieser hat verblüffende Ähnlichkeit mit dem Thron, auf dem die böse Königin residiert.

Für Erik spielt all das freilich noch keine Rolle. Er fiebert mit Wendy, Klaus und Michael, lässt sich von seinem Vater als Peter Pan durch das Wohnzimmer fliegen und tritt dabei mit Vergnügen den täglich neu zu bauenden Duplo-Big-Ben vom Tisch. Wenn Tigerlilly gerettet und Kapitän Hook besiegt wurde, ist es Zeit für das Bett – dem einzigen Ort, um auch als Erwachsene noch einmal ins Nimmerland zu gelangen.

Anna-Lisa Katthagen-Tippkötter ist Kunsthistorikerin und Mutter eines kleinen Sohnes. Foto: Jana Bauch

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