Analyse Die hohe Schule des Bürgerengagements

Mönchengladbach · Vordergründig stellt sich die SPD angesichts des Protests gegen den Bücherei-Neubau geschickter an als einst die CDU bei Giesenkirchen 2015. Tatsächlich ist das Wendemanöver hasenfüßig. Der Bürger indes kann zeigen, wie reif er mitzubestimmen vermag.

 Darf auf diesem roten Sofa in der Stadtbücherei an der Blücherstraße auch weiterhin jemand Platz nehmen? Darüber werden wohl die Mönchengladbacher an der Wahlurne entscheiden müssen. Denn nur so lässt sich der Neubau-Plan beerdigen.

Darf auf diesem roten Sofa in der Stadtbücherei an der Blücherstraße auch weiterhin jemand Platz nehmen? Darüber werden wohl die Mönchengladbacher an der Wahlurne entscheiden müssen. Denn nur so lässt sich der Neubau-Plan beerdigen.

Foto: Isabella Raupold

Naivität ist kein Straftatbestand. Und immerhin das kann man SPD, Grünen und FDP denn doch attestieren: Sie meinen es gut mit dem Bücherei-Neubau. Sie glauben tatsächlich, den Bürgern damit ein Geschenk zu machen. Dass diese Bürger ein paar Wochen, nachdem man ihnen fast sämtliche Steuern und Gebühren erhöht hat, einen 25-Millionen-Nice-to-have-Tempel nicht als Geschenk, sondern mehr als Provokation des gesunden Menschenverstands empfinden, hat die Ampel-Parteien tatsächlich überrascht. Es hat sie in seiner Wucht sogar regelrecht erschüttert. Man darf über diese politische Naivität in Reinkultur mit Fug und Recht den Kopf schütteln.

Immerhin aber hat sich wenigstens die SPD erschüttern lassen. Als 2008 die CDU in Giesenkirchen — wenn auch in einem inhaltlich anders gelagerten Fall — ähnlich heftigen Gegenwind verspürte, hat sie ihn in einer Mischung aus Überheblichkeit und Hilflosigkeit schlicht ignoriert. Die SPD hat ausreichend Überlebensinstinkt, nun angesichts des Protests quer durch Lager und Schichten so auf die Bremse zu steigen, dass es immerhin ordentlich qualmt. Und genug Chuzpe, das als Bürgernähe zu verkaufen. In Wahrheit sagen die Sozialdemokraten genau in dem Moment, wo die Bürger sich gegen eine offensichtliche Fehlentscheidung lautstark und absolut unmissverständlich wehren: Jetzt sollten wir doch mal die Meinung der Bürger hören!

Das könnte ehrenhaft sein, wenn es nicht so erkennbar berechnend und hasenfüßig wäre. Denn die SPD weiß sehr wohl, was die Mehrheit der interessierten Bürger in Gladbach über den Neubauplan denkt — und zwar auch ohne sie für mehrere hundert tausend Euro eigens an die Wahlurne zu zitieren. Das bekommen sie seit Wochen allein schon von den eigenen aufgebrachten Mitgliedern zu hören. Doch die Sozialdemokraten brauchen den Umweg über den Bürgerentscheid, weil sie das unsägliche Thema in der Ampel anders nicht beendet bekommen.

So bleibt denn eine Unwägbarkeit: Ist das Thema ausreichend Bürgern wichtig genug, um dafür eigens wählen zu gehen? Sind knapp 21 000 Mönchengladbacher — so viele müssen es sein — sauer genug, um eine halbe Stunde ihres Sonntags für die Wiederherstellung politischer Vernunft aufzuwenden?

Traditionell ist die Wahlbeteiligung in Mönchengladbach niedrig. Und traditionell engagieren sich Bürger besonders zuverlässig, wenn es um Vorhaben geht, die ihre eigenen Belange ganz unmittelbar betreffen. Zum Beispiel, wenn eine Biogasanlage oder Windräder in ihrer Nachbarschaft gebaut werden. Wenn vor ihrer Haustür zu viele Autos fahren. Oder zu viele, neue Häuser direkt vor ihrer Nase gebaut werden sollen. Hier geht es aber darum, ein Geschenk abzulehnen — aus ökonomischem Sachverstand. Wer gegen den Neubau der Stadtbücherei ist, muss verstanden haben: Ein Neubau wäre schön; die Stadt kann ihn sich aber nicht leisten. Das ist die ganz hohe Schule des Bürgerengagements.

Und das ist politisch betrachtet die wirklich spannende Frage dieses Bürgerentscheids: Sind die Bürger reif genug, sozusagen in den laufenden politischen Betrieb einzugreifen, Fehlentwicklungen Vorschub zu leisten, ohne davon unmittelbaren Nutzen zu haben? Wer dieser Tage die Diskussion verfolgt, in Internetforen, in den Kneipen, beim Bäcker, wer die Stimmen hört von Chefärzten genau so wie von einfachen Arbeitern, der muss den Eindruck gewinnen: Ja, das sollte langen — zumindest, wenn der Bürgerentscheid nicht auf den Sankt Nimmerleinstag geschoben wird.

So könnte die Ampel am Ende — wenn auch ganz und gar unfreiwillig — tatsächlich einen wertvollen Beitrag zur politischen Kultur der Stadt leisten.

(RP)
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