Serie Denkanstoß Die Flucht in Scheinwelten

Mönchengladbach · "Second Hand" - das hört sich nicht immer gut an. Wer hat nicht gerne etwas zum ersten Mal in seiner Hand, etwas, das zuvor noch niemand in der Hand hatte. Sicher - manchmal geht es nicht anders, manchmal hat es sich sogar eingebürgert und wird einfach so hingenommen. Das Auto aus zweiter Hand muss ja nicht alleine deshalb schon schlecht sein, weil es vor mir andere benutzt haben.

Bei Kleidung aus dem "Second-Hand-Shop" sieht das schon etwas anders aus: Es reicht eben nicht dazu, sich immer etwas Fabrikneues zu beschaffen. Viele Menschen in unserem Land sind auf solch günstige Einkaufsgelegenheiten angewiesen. Und bei weitem nicht alles, was in diesen Shops zum Verkauf kommt, ist verschlissen und alt; vieles wandert nur aus dem reinen Überfluss in den Kleiderladen - oft genug sogar gekauft und nie getragen. Der Begriff "aus zweiter Hand" kann zwiespältige Betrachtungen auslösen - auch was Denkhorizonte angeht. "Das wüsste ich schon gerne aus erster Hand..." Ein geflügeltes Wort, wenn es um die Weitergabe von Informationen geht. Klar - vom Kern, von der eigentlichen Wahrheit entfernt man sich je nach Erzählstufe immer weiter.

Und doch werde ich den Eindruck nicht los, das wir uns immer mehr in solche "Welten aus zweiter Hand", auch als "virtuelle Welten" bekannt, zurückziehen und darin leben. Das fängt bei Fernsehserien und Comics an, mit deren Figuren man sich identifiziert, in deren Straßen und Wohnungen man lebt, geht über Computerspiele, die im Extremfall über das Internet weltweit vernetzt eine eigene Lebenswelt entfachen, über Menschen, die einem via Internet-Video ihr Leben erzählen und mit denen man sich virtuell befreunden kann bis hin in den Bereich der Wirtschaft, die fast nur in diesen virtuellen Welten unterwegs ist. Und zwar in Form unvorstellbar großer Geldflüsse, die letztlich nichts anderes sind als Datensätze, die hin und hergeschoben werden.

Dagegen steht dann die raue Lebenswirklichkeit, die Menschen immer wieder kalt erwischt, die für einen Moment aus diesen Traumwelten herausschauen und plötzlich nicht mehr wissen, wer und wo sie sind. Totale Orientierungslosigkeit ist die Folge, der Zusammenbruch des eben noch als Wirklichkeit erlebten Lebensraums, der dann doch wieder in der eigenen Straße, der eigenen Stadt, der eigenen Familie endet. Eine Orientierungslosigkeit, die sich auf alle eigenen Lebensgefühle und Bereiche erstreckt. Damit einher geht der Verlust der eigenen Wahrnehmungsfähigkeiten. Und wir fragen uns, wie es zu den unfassbaren, menschlichen Grausamkeiten kommen kann, die uns fast täglich über die Nachrichten ins Haus flattern. "Wie kann man so etwas tun? Wie kann man als Elternteil seinem eigenen Kind so etwas antun? Wie gefühlskalt muss man sein, um so etwas Grausames tun zu können?" - die Standardfragen, die wir uns stellen angesichts der Flut von Katastrophen-Nachrichten.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich geißele nicht das Internet als Hort allen Übels - weil es das nicht ist. Sicher befördert das Netz das alles in Echtzeit und weltweit. Aber das Problem selbst liegt in unserem Medienverhalten und ist älter als das Netz: Die Flucht in Scheinwelten - die es immer schon gegeben hat. Mir scheint, dass es früher eine Art "natürlicher Selbstkontrolle" bei den Menschen gab, die schon im Kopf in der Lage war, zwischen Scheinwelt und der Lebensrealität zu unterscheiden. Diese Selbstkontrolle geht zunehmend in der Flut der Daten und Bilder verloren.

Das müsste unser Ansatz sein, diese angeborene und durch eine kompetente Erziehung immer weiter entwickelte "Schere im Kopf" wieder zu schärfen und benutzen zu können. Ganz normal die auf uns einströmenden Daten und Bilder grob auf ihre Plausibilität überprüfen und die eigenen, kompetenten Schlüsse daraus ziehen zu können.

Auch, wenn uns das sicher angesichts der Fülle nicht zu 100 Prozent gelingen wird - jedes Prozent wäre wichtig, wenn wir nicht in einem immerwährenden (Alp-)Traum versinken wollen.

ULRICH CLANCETT IST REGIONALDEKAN UND PFARRER IN JÜCHEN

(RP)
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