Mönchengladbach Der vergessene Volksverein

Mönchengladbach · Schneller Aufstieg, jähes Ende: Der 1890 gegründete Volksverein scharte zu Blütezeiten Hunderttausende um sich und wurde zum Aushängeschild Mönchengladbachs. Wolfgang Löhr erinnert in einem neuen Buch aus der Reihe "Zeugen städtischer Vergangenheit" an den einflussreichen Verein.

Aus dem Munde von Dr. Wolfgang Löhr klingt ein Tadel fast wie ein Kompliment. Doch er meint es bitterernst, als er den rund 150 Zuhörern sagt: "Warum ist der Volksverein heute nicht mehr so bekannt wie er es eigentlich verdient hätte? Mönchengladbach leidet da an Gedächtnisschwund." Löhr ist als Historiker und früherer Stadtarchivar allerdings so etwas wie das Gedächtnis Mönchengladbachs. Es hätte wohl kaum einen Geeigneteren geben können, der den Volksverein wieder in das an dieser Stelle offenbar kränkelnde Gedächtnis der Mönchengladbacher ruft. Dies mag sein Anspruch gewesen sein, als er für die neue Ausgabe der Buchreihe "Zeugen städtischer Vergangenheit" den aktuellen Beitrag verfasste: "Der Volksverein für das katholische Deutschland."

Was heute Borussia ist

Gestern nun, im schmucken Festsaal des Palace St. George, präsentieren Löhr und Hans-Peter Ulepic von der Gladbacher Bank den vergessenen Volksverein aufs Neue. Sie sind sicher: "Was in der Außenwirkung für die Stadt heute Borussia ist, das war vor dem Ersten Weltkrieg der Volksverein." Der Verein notierte mit rund 806 000 Mitgliedern im Jahr 1914 mehr Namen in seinen Vereinslisten als es heute die Volksparteien können. Es ging dem Verein um Politik, um katholische Sozialpolitik. "Der Verein war die Stimme des katholischen Sozialwesens", urteilt Löhr nach einem halben Jahr intensiver Arbeit.

Anders als der heutige Volksverein hatte der damalige Volksverein nicht Arbeitslose, sondern Arbeiter im Blick. Die Rechte der Arbeiter, Irrtümer auf sozialem Gebiet zu bekämpfen, Volksbildung, Arbeiter mündig zu machen, sie politisch wie sozial zu gleichberechtigten Partnern zu machen bis hin zur Abschaffung aller Klassen – das hatten Denker und Gründer des Vereins, wie der Gladbacher Industrielle Franz Brandts, im Blick. Der Verein war eine Denkfabrik für das Proletariat, und unwahrscheinlich modern zudem: Der Verein produzierte Stummfilme, Schallplatten, veranstaltete Diavorträge. "Heute würde er wahrscheinlich einen täglich aktualisierten Newsletter per Email verschicken", meint Löhr.

1890 wurde der Verein in Köln gegründet. Rechtssitz war Mainz, Arbeitssitz aber Mönchengladbach. Der Verein, der gegen Ende der 20er Jahre in immer größere finanzielle Probleme geriet, warnte zudem heftig vor den Nazis. Dies ist wohl der entscheidende Grund, warum es den Volksverein ab dem 1. April 1933 nicht mehr gab. Seine Arbeit setzt heute die Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle unter Professor Anton Rauscher fort.

Der Volksverein selbst ist Geschichte. Aber eine spannende immerhin. Und das ist auch Wolfgang Löhrs Verdienst.

(RP)
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