Kolumne Denkanstoß Europa will gelebt werden

Mönchengladbach · „Durch nationalen Eigensinn führen die Briten ihr Land in die Isolation“, sagt unser Autor. Für ihn ist die Europäische Union das größte Friedensprojekt. Und das müsse man pflegen.

Denkanstoß aus Mönchengladbach: Europa will gelebt werden
Foto: dpa/Frank Augstein

In Frankreich gibt es Bürgermeister, deren Dörfer nicht existieren. Wo früher Häuser standen an Plätzen und Gassen, wachsen heute Kiefernwälder. Nur wer genau hinschaut, kann Ruinenreste im Boden entdecken. Die Bürgermeister ohne Dörfer haben keinerlei Kompetenzen. Sie verkörpern die Erinnerung: Ihre Dörfer in der Nähe von Verdun in der Normandie standen genau dort, wo die Schützengräben des Ersten Weltkriegs gebaut und beschossen wurden, bis die ganze Gegend von den Geschossen durchpflügt war, Häuser zerstört und Abertausende als Kanonenfutter hingeschlachtet waren. Im letzten Jahr haben wir in besonderer Weise noch einmal des 1. Weltkriegs gedacht.

Meine Großmutter hatte in der Schule noch gelernt, dass Franzosen „Erzfeinde“ seien. Die wechselnd demütigenden Friedensschlüsse in Versailles 1871 und 1919 prägten die Vorurteile. Der 2. Weltkrieg schien die „Erbfeindschaft“ tragisch zu bestätigen. Aber dann wuchs über den Leichenfeldern und zerstörten Dörfern und Städten etwas Neues: Präsident de Gaulle und Bundeskanzler Adenauer reichten sich bei der Versöhnungsmesse in der Kathedrale von Reims die Hände, 1963 wurde der deutsch-französische Freundschaftsvertrag geschlossen. Ich selber habe als Schüler mit Franzosen Brieffreundschaft gepflegt. Wir haben uns gegenseitig besucht. Es war die Idee des europäischen Friedens, die das Haus der Freundschaft über Kriegsgräben ermöglicht und neue Horizonte eröffnet hat. Die europäische Union ist das größte Friedensprojekt des 20. Jahrhunderts!

Wie gut, dass in dieser Woche in Aachen eine Fortführung des Freundschaftsvertrages unterzeichnet wurde. Deutschland und Frankreich setzen ein weiteres Zeichen der Kooperation. Das ist so wichtig in diesen Zeiten! Die Briten machen vor, wie man durch Lügen und nationalen Eigensinn sein Land durch Isolierung beschädigen kann. Den meisten jüngeren Leuten von heute scheint das klar zu sein: Auch in Großbritannien gab es bei allen Wählern unter 60 Jahren eine deutliche Mehrheit für den Verbleib des Vereinigten Königreiches in der EU! Die europäische Freundschaft müssen wir hochhalten und pflegen. Nur gemeinsam werden wir die Herausforderungen der Zukunft und der Weltlage meistern können.

Das gilt auch für die Kirchen. In Paris gibt es das Foyer Le Pont, ein europäisches Begegnungszentrum der Kirchen. Die Programm-Managerin dieses Hauses stammt aus Rheydt, wurde bei uns konfirmiert und lebt nun mit ihrer Familie in Paris. Sie ist eine sympathische Brückenbauerin. Wenn sie hier ist, oder ich dort bin, trinken wir zusammen einen Café und erzählen. Sie hat im Foyer auch für Sie ein Zimmer frei. Europa will gelebt und erlebt werden.

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