Interview mit Ärztin aus Mönchengladbach „Impfpflicht wäre das deutlich kleinere Übel“

Interview | Mönchengladbach · Anh Nguyen, Leitende Ärztin im Mönchengladbacher Impfzentrum, wünscht sich kreativeres und schnelleres Handeln im Wettlauf mit dem Coronavirus.

 Anh Nguyen vor dem Impfzentrum, in dem sie seit dessen Start Menschen gegen das Coronavirus immunisiert. (Archivfoto)

Anh Nguyen vor dem Impfzentrum, in dem sie seit dessen Start Menschen gegen das Coronavirus immunisiert. (Archivfoto)

Foto: Ilgner,Detlef (ilg)/Ilgner Detlef (ilg)

Vor einem Jahr haben Sie und Kollegen mit mobilen Impfungen in Altenheimen begonnen. Die Pandemie hält an, stehen wir heute besser da als Ende 2020?

Nguyen Wir stehen definitiv besser da. Wir haben einiges an Erkenntnissen dazugewonnen, wir wissen jetzt, wie  das Impfen im größeren Stil funktioniert und haben dafür Strukturen geschaffen. Diese Strukturen mussten sich zwar erst einmal finden, aber wir wissen jetzt, wie es geht. Wir haben inzwischen mehrere Corona-Wellen hinter uns, dennoch würde ich sagen: Wir können uns besser fühlen, weil wir mit der Impfung die Alten und die Risikopatienten geschützt haben. Das zeigen die Statistiken.

Ohne all das wäre es viel schlimmer gekommen?

Nguyen  Ja. Natürlich hat sich das Virus inzwischen auch angepasst. Im Moment ist die Omikron-Variante das Problem. Das bedeutet, dass wir uns an das Tempo des Virus anpassen müssen. Wir haben noch dazu die Erkenntnis gewonnen, dass der Impfschutz leider Gottes doch nicht so lange anhält wie bisher angenommen. Daher gab es ja jetzt die Empfehlung der Ständigen Impfkommission, dass wegen der Omikron-Variante schon nach drei Monaten geboostert werden sollte. Das sind jetzt die neuen Herausforderungen.

Bleiben wir noch mal kurz bei den alten. Das Impfen im großen Stil ist auch in Mönchengladbach nicht ohne Ruckeln und Holpern angelaufen. Was waren die größten Probleme?

Nguyen Als wir einmal wussten, wie die Zuständigkeiten geregelt waren, als wir genug Impfstoff hatten, als neben den Impfzentren auch die Hausärzte zu impfen begannen, ist es reibungslos gelaufen. Schwierig war es am Anfang, als noch unklar war, wer ist wofür zuständig, was sind die Wege, wie kommt der Impfstoff dahin, wo er hinkommen muss? Diese Findungsphase war schwierig. Und dann hatten wir ein Gesundheitsministerium, das eine neue Aufgabe anzupacken hatte. Dessen Kommunikation an die Basis ließ sehr zu wünschen übrig. Es war nicht immer alles deckungsgleich, was das Ministerium kommuniziert hat.

Also widersprüchlich?

Nguyen Ja, widersprüchlich. Unter diesen Umständen im Impfzentrum Aufklärungsarbeit zu leisten, empfand ich oft als das Schwierigste. Oft sind wir an der Basis zu spät informiert worden. Wir haben oft aus der Presse von Dingen erfahren oder mitunter kamen auch Impflinge mit Informationen, die wir selbst noch gar nicht bekommen hatten. Das ist maximal suboptimal.

Welche Erfahrungen haben Sie mit Impflingen gemacht? Und mit  Impfdränglern, die die Ellenbogen einsetzen?

Nguyen Als es noch wenig Impfstoff gab und sehr viele Priorisierungslisten, durch die wir uns arbeiten mussten,  war die Dankbarkeit und die Hoffnung bei vielen sehr groß, weil sie das Gefühl hatten: Jetzt passiert endlich was, ich kann mich schützen, ich muss nicht mehr so viel Sorge haben. Das ist aber zunehmend schwieriger geworden, gerade bei Entscheidungen des Ministeriums, die für Verwirrung sorgten. Dann mussten wir den Menschen erklären, warum ein Impfstoff plötzlich nur noch für einen bestimmten Altersbereich eingesetzt werden soll und nicht mehr für den ursprünglich vorgesehenen. Und es gab auch Leute, die meinten, sie seien an der Reihe, waren es aber nicht. Da hat das Team im Impfzentrum eine ganze Menge abbekommen und ausbaden müssen. Im Moment gibt es etliche Impflinge, die sehr voreingenommen sind und sagen: „Ich hab Biontech gut vertragen, ich will Moderna nicht, ganz egal, was Sie sagen.“ Es ist dann schwierig, diese Diskussion noch zu einem fruchtbaren Ergebnis zu führen.

In solchen Fällen lassen sich manche lieber gar nicht impfen?

Nguyen Ja, einige wenige. Wenn wir wissen, wir haben nicht genug Biontech für alle und wir würden eine Ausnahme machen, dann käme zwei Minuten später der Nächste, der eine Ausnahme sein möchte.

Welche Lehren sind aus den Erfahrungen zu ziehen? Was muss optimiert werden?

Nguyen Eine ganz wichtige Lehre ist: Man kann nicht in einer Pandemie pauschal sagen: Wir brauchen kein Impfzentrum mehr, weil es nicht mehr wirtschaftlich tragbar ist.

Wie es vom Land hieß, weshalb der Betrieb im Nordpark Ende September erst einmal eingestellt wurde....

Nguyen Da fehlte der Weitblick. Man hätte mit Blick auf die Entwicklung in Israel und anderen Ländern voraussehen können, dass es das noch nicht gewesen ist – zumal wir auf den Herbst und den Winter zugingen. Den Betrieb jetzt für den Dezember wieder hochzufahren, hat uns viel Kraft und Zeit gekostet – Zeit die wir eigentlich nicht haben. Zum 30. September wurden viele Verträge gekündigt, die Mitarbeiter im Impfzentrum haben sich anders orientiert. In Mönchengladbach war zunächst die Feuerwehr für das Impfzentrum zuständig. Diese Struktur gab es mit der Schließung nicht mehr. Die Zuständigkeit ist nun auf das Gesundheitsamt übergegangen. Da musste viel neu eingearbeitet werden. Jetzt ist das aber wieder eine etablierte Struktur und ein eingearbeitetes Kernteam,  da sollte man nicht noch einmal einen Führungswechsel machen.

Nicht wenige sagen, Kinder sind in der Pandemie besonders zu kurz gekommen. Sehen Sie das auch so?

Nguyen Ja, viele Sozialkontakte sind für Kinder beschnitten worden. Und auch aktuell: Es gibt keine Empfehlung der Stiko fürs Boostern der Unter-18-Jährigen. Das kann man mit noch fehlenden Daten und Erfahrungen begründen. Aber wir haben immer noch eine Pandemie, und wenn die Stiko sagt, wir können Erwachsene nach drei Monaten boostern, habe ich kein Verständnis dafür, warum Jugendliche nicht geboostert werden können. Warum soll denn da der Schutz länger anhalten als bei den Erwachsenen? Das kann doch kein so riesiger Unterschied sein! Mit Blick auf Weihnachten hätte es sicher auch  nicht geschadet, ein paar Wochen eher zu sagen, es gibt jetzt Kinderimpfstoff, wir empfehlen das. Ich hätte mir viele Entscheidungen der Stiko etwas früher gewünscht.

Die Stiko ist zu zögerlich?

Nguyen Die Stiko spricht Empfehlungen aus, wie sie es schon immer gemacht hat: Auf der Basis von Daten und Studien und alles muss von mehreren Köpfen in einem Team abgewogen werden. Das kann ich auch verstehen, darum vertrauen wir Ärzte der Stiko. Aber: In einer Pandemie muss man einen anderen Modus finden und sich an die dynamische Lage mit dieser rasanten Geschwindigkeit anpassen, um schneller reagieren zu können.

Wie sollte man mit Impfskeptikern und Impfgegnern umgehen?

Nguyen Einen Impfgegner bekommt man nicht dazu, sich impfen zu lassen. Das ist nach meinen Erfahrungen eine Meinung, die so festgefahren ist und der manchmal auch jegliche vernünftige Basis fehlt, da fehlt dann auch eine Grundlage, auf der man sich fruchtbar unterhalten könnte. Impfskeptiker aber gewinnt man womöglich schon durch vermehrte Aufklärungsarbeit fürs Impfen. Etwa indem man Fakten liefert und aufzeigt: Wir haben jetzt durchaus viele Daten, dass die Nebenwirkungen gering ausfallen und dass die Impfung tatsächlich schützt. Im Impfzentrum machen wir so etwas gerade wieder täglich, wenn manche Leute skeptisch gegenüber Moderna sind.

Was halten Sie von einer allgemeinen Impfpflicht?

Nguyen Ich halte das für einen richtigen Schritt und bedauere, dass wir nach wie vor nicht so weit sind. Auch in den Kliniken haben wir noch keine Impfpflicht, das dauert mir alles wieder viel zu lange. Wir schränken für die wenigen Ungeimpften viele Grundrechte auch von Geimpften ein oder haben es in der Vergangenheit getan. Da wäre eine allgemeine Impfpflicht das deutlich kleinere Übel und ein wichtiger Schritt in Richtung Normalität.

Was ist von den neuen Totimpfstoffen zu erwarten?

Nguyen Ich hoffe sehr, dass wir Impfskeptiker, die bislang schwer erreichbar und misstrauisch gegenüber mRNA-Impfstoffen waren, sich sagen: Okay, Totimpfstoff ist eine ganz alte Technologie, damit lasse ich mich auch impfen. Ich hoffe, dass sich da noch einige einen Ruck geben und wir so noch einige Prozent der Bevölkerung erreichen.

Wann wird Totimpfstoff zum ersten Mal im Gladbacher Impfzentrum angeboten?

Nguyen Es heißt zwar, die Auslieferung solle in Kürze beginnen, aber wir haben leider noch keine Meldung, wann es bei uns so weit ist.

Müssen wir uns künftig jedes halbe Jahr gegen Corona impfen lassen oder ist irgendwann nach der dritten, vierten, fünften Impfung mal ein ausreichender Schutzstatus erreicht?

Nguyen Ich glaube schon. Ich hoffe, dass es so ähnlich sein wird wie mit der Influenza und dass es auch mit der Corona-Impfung so ähnlich wird wie mit der Influenza-Impfung. Auf Corona war unser Immunsystem nicht vorbereitet, aber wir trainieren es ja jetzt, dadurch dass wir uns impfen und des Öfteren mal boostern lassen. Irgendwann wird auch diese Trainingsphase zu Ende sein und ein Erhaltungstraining ausreichen.

Sie sind Oberärztin im Bethesda-Krankenhaus, seit einem Jahr mit mobilen Impfteams und als Leitende Ärztin im Impfzentrum unterwegs, haben ein kleines Kind – wie bekommen Sie das alles geregelt?

Nguyen Ich weiß es manchmal selber nicht. Dadurch, dass meine Eltern in der Nähe wohnen und das Kind zeitweilig versorgen können, habe ich Glück. Trotzdem muss das schon sehr stark um das Kind herum organisiert werden, wenn ich fünf oder sechs Tage pro Woche einen großen Teil des Tages eingespannt bin.

Warum tun Sie sich das an?

Nguyen Ich bin eben der festen Überzeugung, dass wir mit Einsatz das Projekt Impfen voranbringen können. Und ich glaube und hoffe, dass wir die Pandemie so eines Tages überwinden werden.

Hätten Sie am Anfang gedacht, dass es ein Engagement über mehr als ein Jahr werden würde?

Nguyen Nein. Ich hatte die Hoffnung, das dauert vielleicht ein halbes oder Dreivierteljahr, dann können wir das Impfzentrum schließen und die Hausärzte übernehmen dann die hin und wieder nötigen Auffrischungsimpfungen. Dass uns diverse Varianten immer wieder ein Schnippchen schlagen, hätte ich nicht gedacht.

Sie wirken in Gesprächen immer sehr aufgeräumt. Wie schaffen Sie es, sich den Gleichmut und  Zuversicht zu bewahren?

Nguyen Als Leitende Oberärztin in der Klinik habe ich die Verantwortung, den jüngeren Kollegen mit gutem  Beispiel voranzugehen. Ich habe auch Tage, an denen ich weniger Hoffnung verspüre, dass es besser wird. Aber wenn man den Kopf in den Sand steckt und nicht mit positiver Energie vorangeht, kommen wir nicht weit.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort