Interview Karl Boland und Hans Schürings Auf diesen Krieg war niemand vorbereitet

Mönchengladbach · Karl Boland und Hans Schürings von der Geschichtswerkstatt sprechen über die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf Gladbach und Rheydt, den Steckrübenwinter von 1916/17 und die wirtschaftlichen Hintergründe der Durchhalteparolen.

 Hans Schürings

Hans Schürings

Foto: Detlef Ilgner

Vor hundert Jahren, im August 1914, begann der Erste Weltkrieg, oft als die "Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts" bezeichnet. War den Menschen zu Beginn des Jahres 1914 klar, was da auf sie zukam?

Karl Boland Nein, ganz und gar nicht. Der Krieg lag nicht in der Luft. Im Januar 1914 war nicht absehbar, was passieren würde. Mönchengladbach war eine prosperierende Stadt auf dem Weg zur Großstadt. Die Stimmung war eher optimistisch.

 Karl Boland

Karl Boland

Foto: Ilgner Detlef (ilg)

Wie haben die Menschen in Gladbach und Rheydt dann den Kriegsausbruch im Sommer 1914 erlebt?

Boland Vor allem der Mittelstand und die gebildeten Kreise waren in Jubelstimmung. Bei den Arbeitern war die Reaktion verhaltener. Es gibt ein Foto, das zeigt die einzuziehenden Rekruten vor dem Königlichen Bezirkskommando in Rheydt. Aus dem Umland hatten alle umsonst mit der Straßenbahn in die Stadt kommen können. Es wurden sehr nationalistische Töne angeschlagen. Die evangelischen Pfarrer predigten geradezu den Sieg herbei. Im protestantisch-konservativen Rheydt herrschte Hurrastimmung. Alle waren der Meinung, der Krieg könne nicht lange dauern. Man rechnete mit wenigen Wochen.

Hans Schürings Die katholische Arbeiterschaft und der Volksverein für das katholische Deutschland waren zurückhaltender, aber auch hier gab es viele, die sehr begeistert waren. Ich habe in der Volksvereinsbibliothek die "Kriegsgedanken" von Carl Sonnenschein, einem der führenden Mitglieder des Volksvereins, gefunden, die von August bis Dezember 1914 in der Westdeutschen Landeszeitung veröffentlicht wurden. Da schreibt er zum Beispiel am 20. August 1914: "Nach dieser Schlacht wird den deutschen Namen die Welt gehören."

Boland Er berichtet auch von der Begegnung mit einer trauernden Witwe.

Schürings Ja, sie beklagt, dass ihr Mann an einem Herzschlag gestorben ist. "Ich möchte, er wäre in der Schlacht gefallen. Das ist doch ein Tod", so zitiert Sonnenschein die Frau. Die nationale Begeisterung erfasst auch die Katholiken und die Juden, auch weil sie hoffen, dass ihnen die Beteiligung am Kampf die endgültige Emanzipation bringen würde.

Der Krieg hat dann nicht wenige Wochen, sondern vier Jahre gedauert. Wie haben die Menschen in Gladbach und Rheydt diese Zeit erlebt?

Boland Niemand war auf einen solchen Krieg vorbereitet. Das zeigte sich sehr schnell an zahlreichen Versorgungsproblemen. Es gab nicht genug zu essen und Kohlen wurden knapp. Die Kommunen begannen, Höchstpreisverordnungen zu erlassen und Lebensmittelkarten auszugeben, aber es hat nicht funktioniert. Schließlich mussten die Kommunen selbst auf dem Schwarzmarkt einkaufen. Viele Menschen starben an Hunger und Krankheiten. Es kam auch zu Hungeraufständen von Frauen, zum Beispiel in Rheydt. Allerdings waren die Niederrheiner nicht sehr revolutionär gestimmt. Nachdem einige Aufständische verhaftet worden waren, beruhigte sich die Lage. Aber der Hunger blieb. Die alten Leute haben noch lange vom Hungerwinter 1916/17 erzählt, dem sogenannten Steckrübenwinter.

Schürings Es gab einen regelrechten Hass der Stadtbevölkerung auf die Bauern. Die Felddiebstähle nahmen rasant zu und die Ernte musste bewacht werden.

Boland Die Antwort der Nazis auf diese Versorgungsprobleme im Ersten Weltkrieg war später die millionenfache Zwangsarbeit. Die Zwangsarbeiter mussten die Versorgung während des Zweiten Weltkriegs sichern.

Schürings Eine Reaktion auf die Versorgungsengpässe war die Kinderlandverschickung, die später im Zweiten Weltkrieg noch ausgeweitet wurde. Eine halbe Million Kinder ist 1917 in besser versorgte Gebiete aufs Land gebracht worden, auch Kinder aus Mönchengladbach. Dabei kam es 1917 und 1918 zu zwei schweren Eisenbahnunglücken, bei denen insgesamt 58 Gladbacher Kinder, die in Ostpreußen gewesen waren, ums Leben kamen. Die Züge waren Schrott, sie hatten keine funktionierenden Bremsen.

Wie haben sich die Kriegshandlungen auf die Region ausgewirkt? Es gab ja keine Angriffe auf die Städte und es standen auch keine fremden Soldaten im Land.

Boland Das stimmt, es gab hier keine Kriegsschäden, aber ungeheuer viele gefallene Soldaten. 2,5 Millionen deutsche Soldaten sind im Ersten Weltkrieg umgekommen, von den zivilen Opfern gar nicht zu reden. Diese Masse der Toten war ein völlig neues Phänomen. Es gibt in Rheydt ein Denkmal für die Toten der ev. Gemeinde aus drei Kriegen, von 1864, 1866 und 1870/71. Darauf werden 15 Namen genannt. Im Ersten Weltkrieg sind mehr als 1200 Rheydter gefallen. Es kamen rund 1200 Verwundete, die sogenannten Kriegsbeschädigten, heim. Das waren ganz andere Dimensionen. Die Hinterbliebenenfamilien mussten von der Kommune mit versorgt werden, aber auch das funktionierte nicht richtig. Trotzdem wurde in dieser Zeit der moderne Interventionsstaat geboren. Es wurden Strukturen der Familienfürsorge aufgebaut, die später in der Weimarer Zeit übernommen wurden. Auch die Gesundheitsämter und der Mutterschutz haben hier ihre Ursprünge. Der Mutterschutz wurde eingeführt, weil im Krieg die Geburtenzahlen stark nach unten gingen und so für das Überleben von Mutter und Kind gesorgt werden sollte.

Schürings Tatsächlich wusste man kaum, wie man mit der ungeheuren Anzahl von Toten umgehen sollte. Ich bin jetzt bei meiner Recherche auf Planungen für Ehrenfriedhöfe und Ehrenhaine gestoßen mit detaillierten Entwürfen für die Bepflanzung und die Kreuze. Das geschah während des Krieges, vorher hatte man nicht damit gerechnet. Der Krieg war für die Soldaten eine völlig neue und traumatische Erfahrung. Der Erste Weltkrieg gilt als einer der ersten "totalen Kriege".

Der Einsatz von Giftgas und der U-Boot-Krieg waren etwas Neues. Welche Stimmung herrschte im Land und welche wirtschaftlichen Konsequenzen gab es?

Boland Es gab eine Pressezensur. Für Mönchengladbach war das stellvertretende Generalkommando in Münster zuständig. Durch die Zensur wurde verhindert, dass die Menschen über die tatsächliche Lage informiert wurden. Auch die Feldpostkarten las erst ein Zensor. Die Leute zu Hause an der "Heimatfront" sollten durchhalten und alles tun für den Sieg. Beispielsweise wurde in Kursen gezeigt, wie man mit minderwertigen Lebensmitteln kochen kann. Als dann klar wurde, dass der Krieg verloren war, waren alle entsetzt. Das hatten sie nicht kommen sehen. Die Durchhalteparolen hatten auch wirtschaftliche Gründe: Viele hatten sich über Kriegsanleihen geschäftlich am Krieg beteiligt. Sie hatten auf einen Sieg und hohe Reparationsleistungen gesetzt wie nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71. Die Niederlage war dadurch umso schwerer zu akzeptieren.

Schürings Es wurde lange alles getan, um die Mittel für den Krieg aufzubringen. Es gab eine Spendenaktion, bei der vor der Marienkirche in Rheydt eine große Bismarckfigur aus Holz aufgestellt wurde. Die Bürger konnten Eisennägel kaufen und sie in die Figur einschlagen, so dass ein eiserner Panzer entstand. Dadurch kam eine ganze Menge Geld zusammen. Bei einer anderen Aktion — Gold für Eisen — wurde unter anderem die Amtskette des Oberbürgermeisters von Rheydt eingeschmolzen. Auch die Kirchenglocken wurden bekanntlich nicht verschont.

Die Niederlage kam also für alle überraschend?

Boland Ja, man versuchte dann im Nachhinein dem Ganzen einen Sinn zu geben. Deshalb wurden so viele Kriegerdenkmäler gebaut. Ich schätze, es gibt in Gladbach mindestens hundert. Je nachdem, welche Gruppe sie errichtet hat, sind sie stärker christlich oder nationalistisch geprägt. Das bekannteste Denkmal ist natürlich der riesige Löwe, der bis in die 1960er-Jahre auf der Hohenzollernstraße stand und sich drohend gegen Frankreich wendete. Mit den Denkmälern wurde versucht, den vergeblichen Taten der Soldaten einen positiven Sinn zu unterlegen.

Wie wollen Sie als Gladbacher Geschichtswerkstatt mit dem Jahrestag des Kriegsbeginns umgehen?

Schürings Wir planen in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv ein Buch mit Aufsätzen zu verschiedenen Aspekten des Krieges. Arbeitstitel ist "Der Erste Weltkrieg in Mönchengladbach und Rheydt - Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in der Katastrophe". Es wird um die Wirtschaft gehen, die Künstler, die Kirchen, Parteien und Vereine und die zivilen Opfer. Material gibt es viel. Es muss allerdings noch vieles ausgewertet werden. Es gibt kaum etwas, das besser dokumentiert ist als der Erste Weltkrieg.

JAN SCHNETTLER, GABI PETERS UND ANGELA RIETDORF FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

(arie)
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