Serie Anders wohnen Das Haus der unbändigen Fülle

Mönchengladbach · Fünf Etagen, 560 Quadratmeter und eine Konzerthalle als Wohnzimmer. Die Familie Schaal wohnt in Stein gewordener Geschichte.

 Brigitte und Hans-Rolf Schaal im Treppenhaus ihres Hauses an der Kaiserstraße.

Brigitte und Hans-Rolf Schaal im Treppenhaus ihres Hauses an der Kaiserstraße.

Foto: Ilgner Detlef (ilg)

Der Kontrabass zupft. Hier und da streicht eine der Geigen die Nervosität weg. Die Tuba probiert ein letztes Mal den Lippenansatz. Fliege, weißes Hemd, Frack. Unterdrücktes Räuspern, gedämpfte Stimmen im Publikum. Dann setzt die Musik ein. Anerkennende Blicke gegen das Tonnengewölbe: Diese Akustik der vier Meter hohen Decke! So muss es, nein, so wird es gewesen sein bei einem der Konzertabende oder Soirées im Haus des Fabrikanten, Mäzenen und Gründers des „Gladbacher Orchestervereins“ Louis Raphaelson auf der Kaiserstraße 108. Damals, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg.

Es ist, als wehte eine ferne Ahnung der Streicherklänge auch heute noch durch den vier Meter hohen und 50 Quadratmeter großen Raum in der ersten Etage. Es ist das Wohnzimmer von Hans-Rolf und Brigitte Schaal. Sie haben das Haus mit seinen fünf Etagen und insgesamt 560 Quadratmetern 1980 übernommen. Über mehrere Stationen war das Haus schließlich in ihren Besitz übergegangen. Brigitte Schaal sitzt mit ihrem Mann im Esszimmer, von dem eine mächtige Flügeltür den Blick auf das wohl ungewöhnlichste Wohnzimmer in Mönchengladbach freigibt: „Ich reise nicht gerne. Daher war klar, dass wir uns es hier so schön wie möglich machen.“

Das klingt so einfach. In Wahrheit ist das Haus in gewissem Sinn maßlos und unbändig. Maßlos natürlich im rein metrischen Sinn und unbändig in der angebotenen Fülle an Möglichkeiten. Das Haus strotzt vor Geschichte und Geschichten: Offenes Dach durch Bombenschäden, Einquartierte nach dem Krieg, Lungenfacharztpraxis, eine scheinbar leblose Frau im Flur, erst freigelegte, dann wieder verborgene Wandmalereien in den ursprünglichen Kinderzimmern, jedes Jahr 36 Fackeln zu St. Martin im Treppenhaus, Kunst, Trödel und vielleicht auch ein bisschen Nippes. Es scheint, als habe das Haus seine Bewohner in Besitz genommen und nicht umgekehrt.

Ein Fest für das Auge und die Sinne. An den Wänden im großzügigen Treppenhaus alte Ölgemälde, Möbel, im Eingang zur Wohnung der Schaals erklärt sich dem Besucher die Familiengeschichte aus einer Fotogalerie. Nahezu überall, auf Regalen oder an die Wände gehängt, Radierungen, Stiche, Linol; Köpfe und Reliefs aus Keramik. Arbeiten der Besitzerin. Brigitte Schaal hat ihr Berufsleben als Lehrerin in der Grundschule in Bettrath-Hoven verbracht.

 Das wohl ungewöhnlichste Wohnzimmer in Mönchengladbach: vier Meter hoch und 50 Quadratmeter groß.

Das wohl ungewöhnlichste Wohnzimmer in Mönchengladbach: vier Meter hoch und 50 Quadratmeter groß.

Foto: Ilgner Detlef (ilg)

Ein prall gefülltes Haus. Und dennoch stöbern die Besitzer immer noch mit Begeisterung über die Trödelmärkte, bis hin nach Köln.

In der Küche Fliesen aus einem Abbruchhaus in der Nähe, deckenhoch Kuchenplatten aus Steingut auf den Wänden. Blaue Motive. Auf der langen Fensterbank im Esszimmer Kunst, die mit Licht arbeitet, ein runder Tisch mit blauen Acrylstühlen. Ein gelungener Kontrast zum Jugendstil des Hauses. Das Blau in den Arbeiten aus und auf Papier oder Glas beherrscht auch hier den Raum und den Betrachter.

 An den Wänden hängen Raritäten wie dieses Telefon.

An den Wänden hängen Raritäten wie dieses Telefon.

Foto: Ilgner Detlef (ilg)

Wenn es für Architektur so etwas gibt wie menschliche Züge, so strahlt das Haus Kaiserstraße 108 eine Lässigkeit aus, die fast schon obszön wirkt. Im besten Sinn. Dabei hat es lange nicht danach ausgesehen, dass dem denkmalgeschützten Haus jemals eine derartige Sinfonie innewohnen würde. Schon Brigitte Schaals Vater habe immer schon gesagt, „das Haus ist ein Fass ohne Boden“. Sie nickt, bevor sie weiterspricht: „Und auch ich fand das Haus schrecklich, als ich mit 14 Jahren bei einer ersten Besichtigung mitgehen durfte. Wir wohnten damals doch so schön auf der anderen Seite in Nummer 97.“ Sie lächelt bei dem Gedanken.

Allein schon die vier Fenster neben dem Hauseingang hätten mit ihren Gittern wie Gefängniszellen gewirkt. Dennoch zog sie mit ihrer Schwester und den Eltern 1959 ein. Schon bald wurde aus der Praxis ihrer Tante ein Anwaltsbüro. Und aus den vergitterten Fenstern Garagen. „Ein Luxus, der sich heute in der Innenstadt bezahlt macht“, steht in einer eigens verfassten Chronik zum hundertsten „Geburtstag“ des mächtigen Hauses. Noch so eine wunderbare Geschichte: „Wir haben später vorsichtig den Putz abschlagen lassen müssen, „damit unser Auto auf den Millimeter genau hineinpasst“.

 Besonders ist auch der Garten – eine grüne Oase mitten im Gründerzeitviertel nahe des Schillerplatzes.

Besonders ist auch der Garten – eine grüne Oase mitten im Gründerzeitviertel nahe des Schillerplatzes.

Foto: Ilgner Detlef (ilg)

Derzeit teilen sich die Schaals mit vier weiteren Parteien das Haus. Zum Glück, denn ohne Mieteinnahmen sei es nicht zu halten. Zeigen sich irgendwo kleine Schäden, „werden sie sofort beseitigt, bevor sie später viel zu kostenintensiv beseitigt werden müssen“, erklärt Hans-Rolf Schaal. Der pensionierte Kfz-Meister und Opel-Verkäufer erzählt von „begeh- und beheizbaren Dachrinnen“, davon, dass sie schon in den 80er Jahren hohe Summen in den Ausbau und Erhalt des Hauses gesteckt haben: „1980 Umbau,`drei Jahre später die dritte Etage modernisiert, 1985 den 100 Quadratmeter großen Speicher zu einer Wohnung umgebaut. Mir war damals klar, dass wir nur klotzen konnten. Kleckern hätte uns nicht geholfen.“ 2014 seien schließlich das 2,60 Meter tiefe Fundament freigelegt und der Keller trockengelegt worden.

Beide, Hans-Rolf Schaal und Brigitte Schaal, die Pensionäre, zögern nicht wirklich, zu versichern, „wir bereuen unsere Entscheidung nicht. Wir wohnen traumhaft. So viel Herzblut steckt in unserem Haus“. Und auch im Garten. Von dem war bisher noch gar nicht die Rede. Eine gemütliche Oase mitten in der Stadt, wie ihnen regelmäßig bescheinigt wird. In den 1970ern haben die Schaals das dort Mitte der 1920er Jahre angelegte Waschhaus zu einer Bar umgebaut, „in dem wir viele wunderbare Feten gefeiert haben“. Brigitte und Hans-Rolf Schaal können ganz beruhigt sein, was die Zukunft von Haus Nummer 108 anbelangt. Enkel Emil hat nämlich seiner Mutter bereits verkündet: „Mami, hier ziehen wir aber nie aus.“

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