Serie Denkanstoss Alles Vergangenheit?

Mönchengladbach · Vor ein paar Wochen habe ich endlich den Schreibtisch aufgeräumt. Ganz hinten in der Schublade habe ich ein Päckchen mit Dokumenten und Aufzeichnungen meines Opas gefunden. Fast vergessen und doch tief in der Erinnerung - Papiere einer verlorenen Schlacht und einer beschädigten Seele. Im Dezember 1942 war mein Opa als Soldat der 6. Panzerdivision ziemlich genau 46 Kilometer vor Stalingrad. Hitler hatte 50.000 Mann losgeschickt, um die in Stalingrad eingeschlossenen Kameraden zu befreien - Operation "Wintergewitter" hieß die Aktion.

In meiner Kindheit war dies das ungeliebte Thema vieler Familienfeste und Weihnachtsabende. Opa erzählt vom Krieg - schon wieder! In späteren Jahren knobelten wir vorher aus, wer sich zu Opa setzt um Kriegsgeschichten zu hören, damit der Rest der Familie nicht schon wieder die "ollen Kamellen" hören musste: Ja natürlich, da waren auch die "Hau-Ruck-Geschichten" dabei. Irgendwann habe ich als pubertierende, vorlaute und allwissende Enkelin meinen Opa darüber aufklärt, dass das schließlich ein Angriffskrieg war - selber schuld, wenn man dann Haue kriegt. Dafür und für manches andere schlaumeierische Wort schäme ich mich heute. Einmal, da war er schon sehr alt, hat er mir gesagt: "Du kannst Dir das nicht vorstellen, keiner kann das. Aber ich träume jede Nacht davon!" Wie einsam mag er gewesen sein in diesem Mittendrin zwischen dem Gefühl, schuldig und Opfer zugleich zu sein.

Erst heute, 75 Jahre danach, wird mir klar, was dieser Krieg und die Erlebnisse in Russland für meinen Opa. Als die 6. Panzerdivision vor Stalingrad ankommt, hat sie schon einiges hinter sich. Die Soldaten waren schlecht ausgerüstet, der Nachschub funktionierte nicht, auf dem Weg nach Stalingrad hatten sie schon eine schwere Schlacht in Charkov geschlagen. Damit das nicht falsch verstanden wird: Ja, es war ein Angriffskrieg und großes Unrecht. Dennoch waren es Menschen, die dort im Winter 1942/43 in eine ausweglose Situation gebracht worden sind. Das Gefühl nichts ausrichten zu können, der Eindruck des Scheiterns, die Not, den Kameraden nicht helfen zu können - das hat viele für den Rest des Lebens krank gemacht. Mein Opa hat immer wieder davon erzählt, dass er "hören" konnte, wie verzweifelt die Kameraden gekämpft haben - und dass er nicht helfen konnte, dass keiner helfen konnte und dass der Schnee und die Kälte des russischen Winters ihn fast in den Wahnsinn getrieben haben. Heutige Historiker erklären uns, was die Ursachen für das Scheitern des "Entsatzversuches" gewesen sind. Was diese Erfahrung aber mit den Menschen gemacht hat, das haben wir bis heute nicht ausreichend untersucht. Mein Opa hat aus all dem eine Lehre gezogen, die er mir ans Herz gelegt hat und die mir heute, wenn etwa von einer bestimmten Partei die "Neubewertung der Rolle der Wehrmacht" gefordert wird, immer wichtiger wird: "Merk Dir mal eins", hat er gesagt, "wenn da mal einer kommt, der sagt 'Alle stehen jetzt auf!' - dann bleib bloß sitzen!"

DIE AUTORIN LEITET DIE PHILIPPUS-AKADEMIE DES EV. KIRCHENKREISES.

(RP)
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