Mönchengladbach Alfons Classen - ein Mann mit preußischen Tugenden

Mönchengladbach · 40 Jahre leitete Alfons Classen (83) die Gladbacher Polizei. Sein patriarchalischer Führungsstil war umstritten – insbesondere innerhalb der Belegschaft. Andererseits führte Classen die Behörde sicher durch turbulente Zeiten. Der Jurist schätzt noch heute Pflichtbewusstsein und Disziplin.

 Der junge Polizeipräsident Alfons Classen (links) mit dem CSU-Politiker Franz Josef Strauß bei einer Wahlkampfveranstaltung.

Der junge Polizeipräsident Alfons Classen (links) mit dem CSU-Politiker Franz Josef Strauß bei einer Wahlkampfveranstaltung.

Noch keine vier Jahre leitete Alfons Classen im April 1968 die Mönchengladbacher Polizei, als ihm Wut und Empörung entgegenschlugen. Kurz zuvor hatte Classen eine Anordnung erlassen, die seinen Beamten vorschrieb, höhere Ränge grundsätzlich mit Dienstgrad anzureden. Aus einer Nichtbefolgung könne eine Missachtung des Vorgesetzten abgeleitet werden, die disziplinarische Folgen haben würde.

 "Ich habe fünf Väter und zwei Mütter gehabt", sagt der ehemalige Polizeipräsident Alfons Classen. Als jüngstes Kind wuchs er mit fünf Geschwistern in Viersen auf. "Schnell lernte ich, selbstständig zu sein."

"Ich habe fünf Väter und zwei Mütter gehabt", sagt der ehemalige Polizeipräsident Alfons Classen. Als jüngstes Kind wuchs er mit fünf Geschwistern in Viersen auf. "Schnell lernte ich, selbstständig zu sein."

Diese Sätze reichten, um auf der Hauptversammlung der Polizeigewerkschaft, bei der laut Zeitungsbericht mehrere Hundert Bedienstete anwesend waren, einen Eklat auszulösen. Die Funktionäre attackierten den jungen Polizeichef. "Soll der Kadavergehorsam in dieser Behörde vollkommen werden?", rief ihm ein Gewerkschaftsführer zu. Die Zeiten des Mittelalters seien endgültig vorüber.

Der Berichterstatter der Rheinischen Post notierte "frenetischen Beifall". Es waren nicht zuletzt seine Untergegebenen, die Classen in diesem Moment das Vertrauen aufkündigten. Knapp zwei Wochen später forderte die Gewerkschaft die Ablösung des Polizeichefs – doch Classen blieb und machte Karriere. Davon zeugen ein Verdienstkreuz am Bande und ein Orden des englischen Königreichs. Erst 1994 ging der Polizeidirektor in Ruhestand.

83 Jahre ist Alfons Classen heute alt, exakt 40 Jahre leitete er die Geschicke der Gladbacher Polizei. Jahrzehnte sind vergangen seit der turbulenten Hauptversammlung. Ob er rückblickend irgendetwas anders getan hätte? "Nein", sagt Classen nur. "Wieso?"

Im Oktober 1971 sorgte sein Führungsstil ein weiteres Mal für Schlagzeilen: Einen jungen Polizisten zitierte der Polizeichef zu sich, weil dieser sich über Gebühr mit einem jugendlichen Demonstranten unterhalten hatte. "Das sind für die Polizei keine Gesprächspartner", soll Classen den Beamten zurechtgewiesen haben.

Inzwischen wohnt der ehemalige Polizeichef in der Nähe des Landgerichts, im obersten Stock eines Mietshauses. Von seinem Balkon aus blickt er über Dächer und in Baumwipfel. Er ist freundlich und erzählt gerne. Manchmal fällt die Sonne durch die Glasfront auf das weiche Gesicht. Und gerade dann wirkt Classen nicht wie jener ernste Behördenpatriarch, als den ihn alte Zeitungsartikel schildern, sondern vielmehr wie der gutmütige Großvater aus der Nachbarschaft. "Ja, diese Hauptversammlung war der Tiefpunkt meiner Karriere", räumt Classen ein. "Es war damals aber üblich, den Vorgesetzten mit seinem Dienstgrad anzusprechen." Die Fehde mit der Gewerkschaft hätte früher begonnen. "Kurz nach meinem Dienstantritt forderte mich ein Gewerkschaftsführer auf, ein Disziplinarverfahren einzustellen. Es betraf einen Beamten, der zum wiederholten Mal wegen Trunkenheit im Verkehr aufgefallen war. Ich weigerte mich. Das war meine Pflicht." Ein weiteres Disziplinarverfahren strengte Classen gegen einen Bediensteten an, der einer Weisung nicht Folge leisten wollte. Der Beamte klagte. Das Gericht entschied zugunsten des Polizeichefs.

Pflichtbewusstsein, Gehorsam, Disziplin – das sind Tugenden, die Classen sein Leben lang nicht infrage gestellt hat. Ist es seine Schuld, dass sie außer Mode gerieten? "Es war damals selbstverständlich, einem Befehl zu gehorchen", sagt Classen. Natürlich will man darauf erwidern, dass blinder Gehorsam ganze Kontinente in den Abgrund gerissen hat. Doch stattdessen fragt man den Volljuristen, wie er anstelle des ehemaligen Frankfurter Polizeivizepräsidenten gehandelt hätte. Ob er nicht auch dem Entführer mit Folter gedroht hätte, um das Leben des elfjährigen Opfers vielleicht noch retten zu können? Classen überlegt keine Sekunde: "Nein, die Würde des Menschen ist unantastbar. Schauen Sie ins Grundgesetz. Das gilt auch für Verbrecher." Die Gelehrten streiten über diesen Fall. Classen hat seinen Standpunkt. Es ist der Standpunkt des Rechtsstaats. Strikter Gehorsam dem Gesetz gegenüber: Ist es nicht gerade das, was einen guten Polizeichef noch heute auszeichnen muss? Wer zweifelt, verliert die Orientierung. Der Behördenleiter aber muss entscheiden.

Was Classen von anderen einforderte, dem unterwarf er sich selbst. Nie wäre er als Polizeichef auf die Idee gekommen, einen Kollegen zu duzen. Selbst dann nicht, wenn dieser Kollege mit einer alten Schulfreundin verheiratet war. "Ich habe ihm das Du erst angeboten, als ich in Ruhestand war", betont Classen. Von seinen Eltern, fährt er fort, hätte er Führungskraft, Einsatzwille und Wahrhaftigkeit gelernt. Als Junge besuchte er einmal seinen Vater im Büro. Auch er hatte es in Viersen nach dem Krieg zum Behördenleiter gebracht. Spontan wollte der Sohn seinen Füller mit Tinte füllen. "Was hat mich mein Vater da zur Minna gemacht!", erzählt Classen. "Die Tinte sei städtisches Eigentum. Wie ich auf die Idee käme, sie zu benutzen?" Er schweigt, dann fügt er an: "Mein Vater war ein überaus korrekter Mann."

Auch Classen wollte korrekt sein, lieber einmal zu viel als einmal zu wenig. Er konnte nicht der Kumpel sein. Für ihn hätte es bedeutet, seinen Job nicht zu machen. "Ich bereue den patriarchalischen Führungsstil nicht", sagt der Polizeichef a. D.. Bei seiner Verabschiedung bemerkte der Vorsitzende des Personalrats: "Er war unser aller Vater." Es klingt an: Es gibt noch einen anderen Alfons Classen. Nicht nur jenen, der mit harter Hand die Mönchengladbacher Polizei durch das unruhige Fahrwasser des roten Terrors, der IRA-Bombenanschläge und der Antiatomkraftbewegung führte.

"Im Himmel wird unvergessen sein, was Sie für viele, zum Teil im Verborgenen, getan haben", steht auf einer Geburtstagskarte von ehemaligen Kollegen. "Schreibt man das jemandem, der andere stets kujoniert hat?", fragt Classen. Einmal traf er auf einem Marktplatz einen Bekannten. Der Bekannte erzählte von einem Polizisten, der sich in Duisburg sehr unwohl fühlte. Classen kannte den Mann nicht, doch sofort bot er seine Hilfe an. Bald hatte der Beamte eine führende Position bei der Gladbacher Polizei.

Kaum etwas in Classens Wohnung erinnert an seine ehemalige Tätigkeit. Nur auf dem Schreibtisch steht ein Miniaturwachmann mit Pickelhaube, den Classen von Freunden geschenkt bekommen hat und heute als Briefbeschwerer benutzt. Der schwarz lackierte Wachmann schaut grimmig, sein Gesicht ist zu einer Fratze verzogen. Alles an ihm sagt, habe Furcht vor mir, respektiere mich. Dann hebt Alfons Classen den Wachmann in die Höhe und dreht ihn. Auf dem Rücken, in den verschränkten Armen der Figur, steckt ein Blumenstrauß.

(RP/ila)
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