Mettmann In Mittagsandacht kurz zur Besinnung kommen
Mettmann · Ruhe und Muße für zwölf Minuten: Die evangelische Kirchengemeinde lädt immer mittwochs zur Mittagsandacht ein. Ein spiritueller Gegenentwurf in Zeiten, in denen sogar der Stillstand rast.
Immer mittwochs, zwölf Uhr mittags, für zwölf Minuten. Das ist die Zeit, in der die evangelische Gemeinde in der Kirche an der Freiheitstraße seit ein paar Wochen zur Mittagsandacht einlädt. Zwölf Minuten für eine Andacht? Mal eben zwischendurch beten und dann wieder rein ins Getümmel? Was sich auf den ersten Blick nach "Kirche in Zeiten von Stress und Hektik" anhört, ist von der evangelischen Gemeinde genau so gewollt.
Denn auch dort weiß man: Die Zeit für Ruhe und Muße wird immer knapper. "Es ist ein Angebot zum Innehalten", sagt Pfarrer Bertold Stark. Einkehr, zur Besinnung kommen, die Welt ins Gebet nehmen: All das gehöre für viele Menschen nicht mehr zum Alltag. Im Gegenteil, nicht wir nehmen die Welt ins Gebet, sondern sie uns. Die Moderne ist eine Geschichte des Zeitsparens, in der auch der Stillstand rast. "Wir sind sogar noch in der Freizeit aktiv", weiß Bertold Stark, dass die Zeiten des Müßiggangs längst der Vergangenheit angehören. Walken, Freunde besuchen, Shoppen: Irgendwie sind wir immer auf Achse und müssen etwas tun.
Einfach mal "Nichts" im Kalender eintragen - wer macht das schon. Und wenn es doch sein muss, werden wir unruhig. Wir ringen mit Blutdruckwerten und dem optimalen Körpergewicht. Da ließe sich doch immer noch was optimieren, wenn man nur mehr tun würde. Derweilen gerät die Frage nach einem gelungenen Leben völlig aus dem Blick. Kranksein? Geht gar nicht! Die Matratzengruft wird zum Ort unablässigen Haderns. Wo Heine noch gedichtet hat, wälzt sich längst so manch einer schweißgebadet in Gedanken an den Chef, die Arbeitskollegen oder das vermutlich überlaufende Email-Postfach. Handy und iPad immer in Reichweite, damit der Draht zur Welt nicht verloren geht.
"Es wird oft als belastend empfunden, die Zeit zum Innehalten selbst suchen zu müssen", berichtet Pfarrer Bertold Stark aus seinen Begegnungen mit Menschen, denen das Abschalten zunehmend schwerfällt. Vor allem die Wochenenden werden zu etwas, dass einfach nur noch durchgestanden werden muss. Wo früher noch Familie einen Halt gegeben hat, ist heute oftmals nur noch Leere. "Die Gesellschaft gibt einen 24-Stunden-Rhythmus vor", so Stark. Gemeinsame Fernsehabende weichen dem Internet, in dem das Filmvergnügen quasi rund um die Uhr abgerufen werden kann. Rituale? Kontemplation? Oder gar ein Gottesdienst? Fehlanzeige!
Auch deshalb sind es nur zwölf Minuten für die Mittwochs-Andacht in der Kirche. Denn Pfarrer Bertold Stark weiß: "Vielen Menschen wäre es nicht möglich, sich mitten in der Woche mehr Zeit zu nehmen." Stattdessen soll so eine Möglichkeit geschaffen werden, nach dem Marktbesuch innezuhalten. Oder in der Mittagspause kurz auszusteigen aus dem Hamsterrad, das sich unablässig weiterdreht.
Vielleicht öffnet sich gerade hier ein Raum für Kirche und Religion - als Gegenentwurf zur "Höher, Schneller, Weiter"- Mentalität. "Wem spirituelle Erfahrungen wichtig sind, der findet dafür auch Gelegenheiten", glaubt Pfarrer Bertold Stark. Gleichwohl beobachte er, dass das Lebensheil zunehmend in eher oberflächlichen Vergnügungen gesucht werde. Auch deshalb habe sich die evangelische Kirchengemeinde bislang gegen die verkaufsoffenen Sonntage ausgesprochen. "Dabei geht es doch vorwiegend um die Erhöhung des Umsatzes und darum, den Menschen Bedürfnisse einzureden, die sie gar nicht haben", glaubt Stark. Abgesehen davon, dass derartige Events eine Einladung dazu sind, auch noch den siebten Tag ruhelos und getrieben inmitten von Shopping-Meilen zu verbringen. "Wir wollen den letzten freien Tag nicht auch noch zum Goldenen Kalb werden lassen", so der Seelsorger. Zumal so manch einer gerade am arbeitsfreien Sonntag darüber nachdenkt, ob es mit dem schlechten Gefühl so kurz vor dem allwöchentlichen Wiedereinstieg in den Arbeitsalltag ewig weitergehen soll.
"Da gibt es manchmal eine Bruchstelle, an der man zum Nachdenken kommt", weiß Bertold Stark. Was mache ich da eigentlich morgen wieder? Will ich das wirklich so oder gibt es womöglich auch andere Wege?
Wer sich diese Fragen stellen möchte, braucht Zeit. Und Gelegenheiten zum Innehalten. Manchmal reichen dafür auch zwölf Minuten.