Herbert Reul Europa muss Solidarität lernen

Mettmann · Sie haben jetzt gefordert, das Pensionsalter für Polizisten flexibler zu gestalten - glauben Sie wirklich, dass das hilft?

Sie haben jetzt gefordert, das Pensionsalter für Polizisten flexibler zu gestalten - glauben Sie wirklich, dass das hilft?

Reul Natürlich lässt sich allein damit das Problem nicht lösen, aber es wäre zumindest eine Maßnahme, die sich ganz schnell umsetzen ließe. Bis neue Polizeianwärter eingestellt und ausgebildet sind, vergehen doch mindestens zwei Jahre. Es gibt aber durchaus Polizisten, die gerne länger arbeiten möchten, nur ist für sie in NRW bisher mit 62 Schluss. Die Aufhebung dieser starren Altersgrenze brächte dem Land quasi über Nacht mehr Polizisten.

Die Intensität der Gewalt in Köln hat alle überrascht, auch die Polizei. Wie hätte man das verhindern können?

Reul Wir Deutsche haben uns über Jahre hinweg im Namen des Datenschutzes den seltsamen Luxus geleistet, der Polizei wichtige Instrumente zur Erkennung und Vermeidung von Kriminalität vorzuenthalten - und damit meine ich nicht nur die Vorratsdatenspeicherung. Es kann doch nicht sein, dass deutsche und holländische Polizisten in einer gemeinsamen Gruppe grenzübergreifende Kriminalität bekämpfen sollen, sich aber gegenseitig nicht auf den Computer schauen dürfen. Nehmen Sie dann noch jenen Attentäter von Paris, der eine Zeit lang in Recklinghausen gewohnt hat. Der Mann hatte sieben verschiedene Identitäten, war aber wichtigen Strafverfolgungsbehörden nicht bekannt. So etwas können wir uns in der heutigen Zeit nicht mehr leisten.

Man hat aber auch das Gefühl, dass Europa in wichtigen Fragen, gerade was den Zustrom und die Verteilung von Flüchtlingen betrifft, längst in nationale Interessen zerfallen ist. . . .

Reul Es gibt zu viele Länder, die Rosinenpickerei betreiben und den Solidaritätsgedanken dabei vergessen. Das muss geändert werden, Europa muss Solidarität wieder lernen. Es gibt ja einen Verteilungsschlüssel für die ankommenden Flüchtlinge. Das ist alles genau geregelt, nur halten sich einige Länder nicht daran.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat den Flüchtlingen eine Perspektive in Deutschland geboten. Stehen Sie zu ihrem Credo: "Wir schaffen das?"

Reul Ich habe nun weiß Gott oft genug mit Frau Merkel gestritten. Beim Thema Energiewende beispielsweise lagen unsere Positionen weit auseinander. Aber in der Flüchtlingsfrage stand ich von Anfang an an ihrer Seite. Vieles, was der Kanzlerin gegenüber an Kritik geäußert worden ist, war ja auch völlig aus dem Zusammenhang gerissen.

Inwiefern?

Reul Frau Merkel hat von Beginn an das Thema sehr differenziert behandelt. Ihr Konzept beinhaltet: Wirtschaftsflüchtlinge zurückweisen, Asylrecht verschärfen, um schneller abschieben zu können, die Türkei in ihrer wichtigen Rolle an Europas Grenze stärken, mit Putin reden, um den Krieg in Syrien beenden zu können - aber eben dann auch die wirklichen Kriegs-Flüchtlinge in Deutschland willkommen heißen und ihnen eine Perspektive bieten. Von all diesen Punkten ist sie nie abgerückt, was in den Medien teilweise aber verkürzt wurde und zu skurriler Berichterstattung geführt hat.

Worauf spielen Sie an?

Reul Gerade einmal sechs Wochen, bevor es hieß, die Kanzlerin mache alle Tore auf, veröffentlichte der Stern eine Geschichte über Angela Merkel mit dem Titel: "Die Eiskönigin". Da hatte sie einem weinenden palästinensischen Mädchen, das im TV schilderte, seine Familie habe kurz vor der Abschiebung gestanden, unmissverständlich klargemacht, dass die Politiker in Deutschland sich an die Gesetze halten müssen, so hart das manchmal leider sei. Nach dem "Wir schaffen das"-Zitat kam die Kehrtwende, Merkel lasse ungebremst den Flüchtlingsstrom zu. Das ist einfach unehrlich.

Bringt die Flüchtlingswelle denn auch Positives?

Reul Na klar. Nehmen Sie nur das ehrenamtliche Engagement. Vor Jahren hieß es, das Ehrenamt sei praktisch tot. Und jetzt schauen Sie mal, wer sich in Leichlingen, Wermelskirchen, Langenfeld und vielen anderen Städten allein in unserer Region alles ehrenamtlich für Flüchtlinge einsetzt. Das ist doch großartig. Ich habe gerade ein Mädchen getroffen, das Flüchtlingskindern Gitarre spielen beibringt. Sie sagt, so viel Glück habe sie schon lange nicht mehr empfunden.

Macht es angesichts all der Probleme zurzeit noch Spaß, Europaparlamentarier zu sein?

Reul Warum nicht? Wir sind aber nicht gewählt worden, um Spaß zu haben, sondern, um gute Politik für die Menschen zu machen. Noch vor Jahren haben sich einige Mitglieder des Europäischen Parlaments bitter beklagt, dass sich niemand für ihre Arbeit interessiert. Und heute? Angesichts der aktuellen Situation verstehen immer mehr Bürger, dass sich die großen Probleme unserer Zeit nicht mehr von Land zu Land lösen lassen, sondern nur, wenn Europa gemeinsam eine Lösung findet. Und das finde ich richtig gut.

(RP)
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