Meerbusch Wenn Helfer zur neuen Familie werden

Meerbusch · Birgit Reis organisierte der syrischen Familie Bash nicht nur eine Wohnung. Sie kümmerte sich auch um einen Arbeits- und Kindergartenplatz. Der 17-jährige Waise Vahid lebt bei den Rowlands in Osterath. "Sie sind meine neue Eltern."

 Blättern im Familienalbum: Seit über acht Monaten gehört Vahid zur Familie Rowland. Der 17-Jährige hat in Steffi und Peter nicht nur neue Eltern gefunden. Auch der kleine Henry hat seinen neuen großen Bruder sichtlich ins Herz geschlossen.

Blättern im Familienalbum: Seit über acht Monaten gehört Vahid zur Familie Rowland. Der 17-Jährige hat in Steffi und Peter nicht nur neue Eltern gefunden. Auch der kleine Henry hat seinen neuen großen Bruder sichtlich ins Herz geschlossen.

Foto: Dackweiler Ulli

"Tschu" bestimmt seit einigen Tagen das Leben der Familie Bash. "Tschu" - das soll eigentlich "Zug" heißen, und der "fährt" nun täglich fast im Minutentakt durch die 78 Quadratmeter große Wohnung in Meerbusch. Nächster Halt: bei Mama und Papa auf der Couch. Seit Nour am Sonntag zu seinem dritten Geburtstag eine kleine bunte Plastikeisenbahn geschenkt bekam, ist der Sohn von Ahmad (30) und seiner Frau Dania Basch (23) mit dem Spielzeug in der Hand von morgens bis abends auf den Schienen seiner Fantasie unterwegs.

Wenn Nour eines Tages alt genug ist, wenn aus "Tschu" ein "Zug" geworden ist, dann will der Vater seinem Sohn die Fotos aus jener Eisenbahn zeigen, die die syrische Familie vor 14 Monaten in die Freiheit entließ. Birgit Reis hat die Bilder auf dem Laptop des Vaters alle schon gesehen, und sie kennt die Geschichte, die jedes einzelne von ihnen erzählt. Reis engagiert sich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe. "Man muss schon sehr hartnäckig sein, gerade wenn es um Behördengänge oder die Suche nach freiwilligen Helfern geht", sagt Reis.

 Geburtstagsfeier für den Kleinsten: Nour, der Sohn von Dania und Ahmad Basch, ist am Sonntag drei Jahre alt geworden. In Meerbusch fand die aus Syrien geflüchtete Familie mehr Glück, als sie jemals zu hoffen wagte.

Geburtstagsfeier für den Kleinsten: Nour, der Sohn von Dania und Ahmad Basch, ist am Sonntag drei Jahre alt geworden. In Meerbusch fand die aus Syrien geflüchtete Familie mehr Glück, als sie jemals zu hoffen wagte.

Foto: jan/U.D.

Seit einem Jahr kocht sie regelmäßig im Heerdter Ökotop mit Flüchtlingsfrauen und deren Kindern. Eine von ihnen war und ist Dania Bash. Liebe geht bekanntlich durch den Magen. Integration auch? Aus Kochpartnern wurden Freunde, aus Freunden Nachbarn. Reis hat der Familie nicht nur ihre Nachbarwohnung vermietet, sie kümmerte sich auch um einen Umschulungsplatz für Vater Ahmad und sorgte dafür, dass der kleine Sohn seit Februar einen Kindergartenplatz hat.

Nour ist wieder mit dem "Tschu" unterwegs. Papas linker Fuß wird zum Bahnhof umfunktioniert. "Es ist nicht einfach, Worte für das zu finden, was Frau Reis alles für uns getan hat", sagt Ahmad Bash. Die ersten vier Monate in Deutschland lernte er täglich über acht Stunden lang die für ihn neue Sprache. "Die Sprache ist der Schlüssel, um sich zu integrieren und eine Arbeit zu finden."

In Syrien und später im Libanon hat er als Fachinformatiker gearbeitet. Bis die ersten Bomben fielen. "Am Anfang wurden die Toten in den Nachrichten noch beim Namen genannt", erinnert er sich, "irgendwann waren es so viele, dass täglich nur noch die neueste Anzahl bekanntgegeben wurde." Mit seiner jungen Familie floh er vor dem Krieg in Syrien in den Libanon. Und somit geradewegs in den nächsten Krieg. 5000 Euro bezahlte er schließlich an einen Schlepper.

Es war 18 Uhr an jenem Juni-Abend im vergangenen Jahr, als ein 19 Meter langes Holzboot mit der Familie und 400 weiteren Flüchtlingen an Bord ablegte. Nach sieben Stunden wurden sie in der Nacht von einem Schiff der Küstenwache aufgegriffen. Weiter ging es mit dem Zug und einem Fernreisebus. Für die letzten Kilometer ihrer Reise hatten sie sich in Deutschland über eine Handy-App Plätze in einem Privatauto gebucht: Mitfahrgelegenheit in den Frieden gesucht. "Der Krieg war nicht unsere Schuld", sagt Ahmad Bash, "wir schauen jetzt nach vorne, für uns beginnt eine neue Zeit. Wir möchten Deutschland, dem wir so viel zu verdanken haben, etwas zurückgeben. In Aleppo gab es für uns nur schlimme, sehr schlimme Tage."

Heute ist ein guter Tag. Auch für den 17-jährigen Vahid. Der junge afghanische Flüchtling sitzt ein wenig aufgeregt auf der Terrasse der Familie Rowland in Osterath und genießt mit seinen neuen Pflegeeltern die Nachmittagssonne. Am Abend steht das erste Fußballtraining der Saisonvorbereitung mit der A-Jugend des Osterather TV an. Vahid ist dabei. Und stolz. Im Verein hat man den Jungen mit offenen Armen empfangen. Viele Spieler und Trainer spendeten Sportkleidung und einen Trainingsanzug, auf dem sein Name eingestickt ist. "Fußballprofi", sagt er, "ich glaube, dass ich das schaffen kann." Sein Glaube hat ihn zuletzt ganz andere Ziele realisieren lassen.

"Vahid war einen Monat lang auf der Balkan-Route unterwegs", berichtet Steffi Rowland, "dabei hat er drei Tage lang ein anderes kleines Mädchen auf den Schultern getragen." Ihr Mann Peter kommt aus England, arbeitet für die Johanniter in einer Flüchtlingsunterkunft, wo er auch Vahid kennenlernte. "Ich bin selbst ein Flüchtling",scherzt er und nimmt Vahid in den Arm. Zu Weihnachten hatten sie den Jungen zu sich eingeladen. "Es war eigentlich schnell klar, dass wir ihn bei uns aufnehmen", erinnert sich Steffi Rowland. Mit ihren Kindern Henry (6), Louis (12) und Lennard (14) hat Vahid quasi über Nacht drei kleine Brüder bekommen. Er selbst hat seine Eltern im Alter von fünf Jahren verloren. "Ich habe keine Erinnerungen an sie", sagt er und zeigt auf Steffi und Peter Rowland. "Das sind meine Eltern." Vahid hat wie die Familie Bash in Meerbusch nicht nur ein neues Zuhause gefunden. Es ist die Endstation einer langen Flucht in ein anderes Leben. Nächster Halt: Neuanfang.

(RP)
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