Meerbusch Neue Erkenntnisse im Fall Erhard Hartung

Meerbusch · Im Meerbuscher Integrationsrat war Erhard Hartung umstritten. Wurde der Südtiroler vor mehr als 40 Jahren zu Unrecht als Attentäter verurteilt? Ein Militärhistoriker sammelte neue Fakten über einen der blutigsten Terrorakte des Südtirolkonflikts

Im Meerbuscher Integrationsrat war Erhard Hartung umstritten. Wurde der Südtiroler vor mehr als 40 Jahren zu Unrecht als Attentäter verurteilt? Ein Militärhistoriker sammelte neue Fakten über einen der blutigsten Terrorakte des Südtirolkonflikts

Der Volksmund nannte sie verharmlosend "Bumser" — ein heute etwas missverständlicher Ausdruck für Terroristen, die in den 1960er Jahren in Südtirol Minen legten und Strommasten sprengten. Für die Tiroler, die sich mit der Teilung ihrer Heimat nach dem Ersten Weltkrieg nicht abfinden wollten — der Norden blieb bei Österreich, der Süden ging an Italien —, waren sie Freiheitshelden und Kämpfer gegen die Italianisierung. Nur entlud sich die jahrzehntelang aufgestaute Wut letztlich in Gewalt: Höhepunkt Dutzender Anschläge war die berüchtigte "Feuernacht" im Juni 1961, in der 40 Masten gesprengt wurden.

Das Sprengen von Strommasten vermochte zwar nicht, wie die Täter hofften, die norditalienische Industrie lahmzulegen, zwang aber die Regierungen in Rom und Wien zur Einsicht, eine politische Lösung herbeizuführen. Heute gilt das Südtiroler Autonomiemodell von 1972 als vorbildhaft für ähnliche Konfliktherde in Europa wie zwischen Serbien und Kosovo.

Doch die letzten Kapitel des Südtiroler Freiheitskampfs sind noch nicht geschrieben. Den bis heute ungeklärten und zugleich blutigsten Terrorakt entriss jetzt der Wiener Militärhistoriker Hubert Speckner dem Vergessen — den Anschlag am 25. Juni 1967 auf einen Strommast auf der so genannten Porzescharte, einem Passweg im hochalpinen Grenzgebiet. Dabei wurden vier italienische Grenzsoldaten getötet, nachdem sie auf Minen getreten waren.

Als Täter verurteilte ein Gericht in Florenz 1971 die drei Freiheitsaktivisten Erhard Hartung und Peter Kienesberger zu je lebenslänglicher Haft sowie Egon Kufner zu 24 Jahren. Die Urteile wurden in deren Abwesenheit gefällt. Hingegen hatte ein österreichisches Gericht das Trio freigesprochen. Hartung lebt seit Jahrzehnten in Meerbusch, auch Kienesberger hat seinen Wohnsitz in Deutschland, Kufner lebt in Österreich.

Die drei Verurteilten müssen noch heute mit Verhaftung rechnen, sobald sie italienischen Boden betreten. Das Urteil habe sein "ganzes Leben verändert und geprägt", die Medienberichte hätten ihm existenzielle Nachteile beschert, sagt Hartung, der sich von Speckners Buch nach 40 Jahren die Wiederherstellung seines Rufs erhofft. "Die Geschichtswissenschaft hat nun Beweise gefunden, dass ich über Jahrzehnte unschuldig diffamiert und verfolgt wurde", sagt Hartung. Im Herbst 1994 hatte der damalige Rektor der Heinrich-Heine-Universität, Gert Kaiser, versucht, Oberarzt Hartung zu kündigen. "Dabei wurde mir meine in Abwesenheit erfolgte italienische Verurteilung zur Last gelegt." Als Hartung vor drei Jahren in Meerbusch in den Integrationsrat gewählt wurde, äußerte die SPD-Fraktionsvorsitzende Ilse Niederdellmann die Sorge, dass es durch ihn "zu rechtspopulistischen Einflüssen" auf den Integrationsrat kommen könnte. Die Grünen bereiteten eine Resolution vor, dass der mit 36 Stimmen Gewählte sein Amt nicht antreten solle. Die UWG-Fraktion forderte Hartung vor seiner Wahl für das Gremium auf, seine Kandidatur zurückzuziehen.

Hartung und die beiden Mitverurteilten sind heute um die 70 Jahre alt. In den 1960er Jahren gehörten sie dem legendären "Befreiungsausschuss Südtirol" (BAS) an, der für mehrere Anschläge verantwortlich war. Kienesberger war die schillerndste Figur: Er unterhielt enge Kontakte zu rechtsextremen Kreisen in Österreich und Süddeutschland, aber auch zum italienischen Militärgeheimdienst SID. Jedenfalls standen die BAS-Aktivisten unter dessen scharfer Beobachtung. Aber als Täter auf der Porzescharte kämen Hartung, Kienesberger und Kufner nicht in Frage, ist Buchautor Speckner nach mehrjähriger Detailforschung überzeugt. Allerdings vermochte auch er die Frage nicht eindeutig zu klären, was die drei am Tag des Anschlags in der Nähe des Tatorts trieben.

Im Dunkeln liegt auch heute noch die mysteriöse Rolle des italienischen Militärgeheimdiensts SID. Speckner fand in Ermittlungsakten der österreichischen Sicherheitsbehörden und in Sitzungsprotokollen hochrangiger österreichisch-italienischer Delegationen, die sich mehrmals in Zürich trafen, viele Ungereimtheiten und Widersprüche dokumentiert, ja sogar Faktenfälschungen und Manipulationen von Beweismitteln und des Tatorts. Speckner: "Alles Material, das im Florentiner Prozess keinerlei Berücksichtigung fand."

So gebe es starke Indizien für die Annahme, dass die vier Carabinieri bereits zuvor bei einer Minenübung getötet worden waren und der SID die Gelegenheit nutzte, den Unfall als BAS-Attentat vorzutäuschen. Auf der Porze befand sich ein Stützpunkt der Geheimdienstler, der auf keiner Karte eingezeichnet war. Merkwürdig sei auch, dass die italienischen Behörden nie Totenscheine und Obduktionsbefunde vorgelegt hätten. Auch der damalige österreichische Justizminister sprach von einem "angeblichen Attentat", das eine "rein inneritalienische Manipulation" gewesen sei, die zum Zweck gehabt habe, die Südtirol-Gespräche zu torpedieren.

Zum Zeitpunkt des Porze-Anschlags begann sich bereits die Autonomielösung abzuzeichnen. Italien stand wegen der Südtirol-Frage international am Pranger; Österreich wollte, dass Rom den Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nicht länger blockiert. So waren beide Regierungen entschlossen, die jeweiligen Gegner einer politischen Lösung auszuschalten. An weiterer Aufklärung, die das Verhandlungsklima nur belastet hätte, waren weder Rom noch Wien interessiert. Speckner ist überzeugt: "Kienesberger, Hartung und Kufner waren einfach Bauernopfer."

Die Aussicht, dass Italien den Fall neu aufrollt, ist eher düster. Als Bedingung fordert Rom ein Schuld- und Reuebekenntnis, das Kienesberger und Kameraden aber verweigern, weil sie ja, wie sie sagen, die Tat nicht begangen haben.

(RP)
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