Interview Anne Wingchen „Unser Vereinsleben war trotz Schließung nie tot“

Leverkusen · Dass der organisierte Sport in Deutschland und im von ihr geführten TSV Bayer Leverkusen einmal still stehen würde, konnte sich Geschäftsführerin Anne Wingchen nicht vorstellen. Dann kam das Coronavirus. Ein Gespräch über den Stillstand, kreative Alternativen und die wirtschaftlichen sowie sozialen Folgen.

 „Outdoor-Indoor-Cycling“ mit Trainer Achim Jakobs ist eine der Möglichkeiten, beim TSV Bayer wieder Sport zu treiben.

„Outdoor-Indoor-Cycling“ mit Trainer Achim Jakobs ist eine der Möglichkeiten, beim TSV Bayer wieder Sport zu treiben.

Foto: Miserius, Uwe (umi)

Frau Wingchen, der TSV hat rund 9.500 Mitglieder und 13 Abteilungen. In einer „normalen“ Woche finden im Verein 1300 Stunden Sport statt. Im März musste plötzlich der gesamte Betrieb eingestellt werden.

Wingchen Bis dahin war das für mich undenkbar. Das Coronavirus hat sämtliche Wirtschaftszweige, Berufe und das öffentliche Leben getroffen – und eben auch den Sport. Der Verein war zu schließen, und das haben wir am 13. März für den Kindersport und am 16. März für den gesamten TSV getan. Angesichts der Situation und der rasanten Entwicklung waren die Maßnahmen aber für alle alternativlos.

Was ging in Ihnen vor?

Wingchen Man sitzt danach erstmal in seinem Büro und denkt: Und nun? Wie machen wir weiter? Es gab ja keine Referenzerfahrung, auf die man hätte zurückgreifen können. Sämtliche Sportangebote wurden eingestellt. Und niemand wusste wie lange. Diese Krise zu moderieren und als Verein zu überstehen, stellt mich vor meine bisher größte berufliche Herausforderung. Da sind auf der einen Seite die Mitglieder, von denen man nicht weiß, wie sie reagieren, auf der anderen Seite trage ich die Verantwortung für meine Mitarbeiter. Da entstanden täglich neue Fragen aus neuen Situationen. Diese letzten Wochen haben uns Kollegen aber nochmal anders zusammengebracht und zu einer schönen Dynamik im Verein geführt. Ich bin stolz, wie wir als TSV bisher durch die Krise gekommen sind.

War die Möglichkeit von Kurzarbeit ein Thema im Vereinsvorstand?

WINGCHEN Klar, auch damit haben wir uns natürlich auseinandergesetzt. Allerdings gab es in allen Bereichen auch ohne Sportbetrieb zunächst einmal genug zu tun - und wenn es Renovierungs- oder Aufräumarbeiten waren, zu denen sonst die Zeit fehlt. Auch da haben die Kolleginnen und Kollegen sehr viel Eigeninitiative bewiesen.

Als Großsportverein sind Sie neben den Mitgliedsbeiträgen auf weitere Einnahmen angewiesen, um die Pflege der Anlagen und die Trainer zu bezahlen. Welche Auswirkungen hatte die vorübergehende Einstellung des Sportbetriebs?

Wingchen Wir hatten Glück, und zwar in erster Linie, weil uns unsere Mitglieder treu geblieben sind. Das war eine große Sorge, die uns anfangs umtrieb. Daneben können wir uns glücklich schätzen mit unserem Hauptsponsor. Die Bayer AG unterstützt uns vorbehaltlos. Bis auf einige kleinere Sponsoren in den Fachabteilungen, die die Entwicklung abwarten wollen, sind uns unsere Geldgeber ebenfalls treu geblieben.

Gab es viele Kündigungen?

Wingchen Zum Verständnis muss man vielleicht erklären, dass der Mitgliedsbeitrag sowieso hätte weitergezahlt werden müssen, weil dieser ist nicht an eine Dienstleistung gebunden ist. Mit dem Beitrag fördere ich den Sport in dem gemeinnützigen Verein, dem ich beigetreten bin. Anders sieht es im Fitnessstudio mit der Zusatzgebühr aus. Aber auch dort gab es kaum Kündigungen. Wir hatten 70 Rückbuchungen bei knapp 2000 Mitgliedern. Das ist ein tolles Treuebekenntnis. Bis auf wenige Ausnahmen wurde uns immer wieder gesagt: Wir stehen zu euch, wir wissen wie wichtig es ist, dass der Sport auch nach Corona weiterläuft.

In der Not sind dann völlig neue Konzepte entstanden, etwa Kurse zum Mitmachen auf YouTube.

Wingchen Für mich war das eine sehr positive Erfahrung, dass wir gerade in den beiden großen Bereichen Fitnessstudio und Kindersport die Situation genutzt haben, um digitale Angebote zu gestalten. Da hat sich eine großartige Dynamik entwickelt. In kurzer Zeit waren die ersten Videos online. Dadurch haben wir knapp 1000 neue Follower in sozialen Medien gewonnen. Das bestätigt die positive Resonanz. Vor allem die Kinder fanden toll, ihre Übungsleiter auf die Weise wiederzusehen.

Nun greifen seit einigen Tagen die ersten Lockerungen, kontaktloser Breitensport und Training im Freien sind unter Einhaltung von Abstandsregeln und Hygienevorschriften erlaubt. Ist der TSV gut vorbereitet?

Wingchen Genau genommen wird bei uns seit 6. April wieder Sport ausgeübt – laut Verordnung durften die Berufssportler und Olympiakader-Athleten, dazu zählen unsere Handballerinnen, Leichtathleten und Para-Sportler, als erstes wieder trainieren. Zu diesem Zeitpunkt waren die Spiele in Tokio noch nicht abgesagt. Mit dem Dezernenten Marc Adomat und der Stadt hatten wir einen tollen Austausch als es um die Koordinierung von Trainingsmöglichkeiten ging. Auf diese Erfahrungen konnten wir zurückgreifen.

Wie beurteilen Sie die Maßnahmen?

Wingchen Ich hätte nicht mit einem derartigen Ausmaß an Lockerungen gerechnet. Es war und ist eine Mammutaufgabe zu schauen, wie man den Betrieb im Fitnessstudio und Kindersport unter Einhaltung aller Auflagen wieder ans Laufen bekommt. Wir als Großverein hatten riesigen Respekt und die Sorge, ob wir die Lockerungen bei einem großen Ansturm überhaupt bewältigen könnten. Der blieb zum Glück aus. Somit waren die Lockerungen gut leistbar für uns. Das Ordnungsamt hatte bisher keinerlei Beanstandungen. Durch die Terminvergabe kommen wir gut zurecht. Die Gruppen füllen sich von Tag zu Tag, und das freut uns. Besonders gut angenommen wird unsere überdachte Fläche hinter dem GoFit, auf der wir Indoor-Cycling und Jumping-Fitness anbieten.

Nun sind im Verein eben auch Spitzensportler, die zurückstecken müssen. Ein paar Meter Luftlinie wird in der BayArena wieder Profifußball gespielt. Was sagt man den Athleten, die kritisieren, dass der Fußball offenbar Sonderstatus genießt?

Wingchen Die Gedanken kommen natürlich, aber wir im Verein waren uns fast alle einig: Wenn die Diskussion um den Fußball nicht in Gang gekommen wäre, hätte der restliche Sport auch nicht so schnell diese Lockerungen erfahren. Insofern sehen wir die Fußballer als wichtigen Partner. Ob das Hygienekonzept der DFL funktioniert, vermag ich nicht zu beurteilen. Wir sprechen von einer wirtschaftlichen Dimension, die dazu führte, die Liga wieder aufzunehmen.

Empfinden Sie die Öffnung des Fußballs als richtiges Signal?

Wingchen Persönlich finde ich, dass es aktuell Themen gibt, die für die Gesellschaft wichtiger zu entscheiden wären als die Bundesliga. Für mich stehen die Aussagen zur schulischen Situation höher als die des Fußballs. Ich habe eine schulpflichtige Nichte sowie einen Neffen und bekomme mit, was es bedeutet, Beruf und Kinderbetreuung unter einen Hut zu bekommen. Aber ich möchte mit keinem Politiker tauschen. Es müssen Dinge entschieden und abgewogen werden, die noch nie jemand erlebt hat von uns.

Spitzensportler denken und schließen Verträge meist für Olympiazyklen ab. Entstehen durch die Olympiaverschiebung Existenznöte?

Wingchen Die Verträge mit den Topathleten laufen weiter. In dem Zusammenhang ist uns auch die duale Karriere sehr wichtig. Kürzlich konnten wir einem Sportler bei der Suche nach einem Praktikum helfen, der sich für diesen Sommer ja nun anders orientieren muss. Wir sind vielleicht nicht der Verein mit den höchsten Honoraren, aber dafür mit einer konstanten Infrastruktur.

Werden die sozialen Folgen in der Gesellschaft gerade unterschätzt? Für viele Kinder und Jugendliche ist der Sport ein zuverlässiger Anker in ihrem Leben.

Wingchen Bewegung und Sport gehören zum gesellschaftlichen Leben dazu. Wir haben aber gemerkt, dass die Gruppe der Senioren mindestens genauso wichtig ist. Mit Hilfe der Handballerinnen haben wir einen Einkaufsservice organisiert – und es war erstaunlich, wie gut das Angebot angenommen wurde. Das geschah in einer Wucht, die ich nicht erwartet habe. Für uns war das eine wichtige Erkenntnis: zu sehen, dass wir als Verein für viele alleinstehende Senioren eine wichtige Anlaufstelle sind. Natürlich sind wir in der Wahrnehmung ein Spitzensportverein, aber von den 9500 Mitgliedern sind mehr als 7500 Breitensportler. Wenn wir für diese Menschen neben dem Sport ein Ort der Kontaktaufnahme sind, ist das so viel wert wie eine Medaille.

Was heißt das für die Zukunft?

Wingchen Bei allem gesundheitlichen Risiko, das Corona birgt, müssen wir schauen, dass wir auch für diese Altersgruppe schnell wieder Angebote schaffen – und das vielleicht mehr noch als wir das bisher getan haben.

Was glauben Sie, wann beim TSV wieder Normalbetrieb herrscht?

Wingchen Normalen Hallensport wird es in absehbarer Zeit allenfalls in kleinen Gruppen geben. Die Fachabteilungen beginnen in den nächsten Wochen nach und nach, Kontaktsport wie Judo ist nicht vor 30. Mai möglich. Auch gibt es keine Kinder- und Anfängerschwimmkurse mehr vor den Sommerferien. In diesem Rhythmus wird es wohl bis Mitte August weitergehen. Wir versuchen, bis Sommer möglichst vielen Mitgliedern wieder Angebote zu schaffen.

Was nehmen Sie bisher mit aus der Krise?

Wingchen Es ist schön zu sehen, dass trotz der Schließung unser Vereinsleben nie tot war und es gelang, es auf kleiner Flamme weiterzuführen. Das zeigt die Stärke dieser Sportgemeinschaft.

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