Ein Jahr nach Explosion im Leverkusener Chemiepark Das Leid der Hinterbliebenen

Leverkusen · Am 27. Juli 2021 kommt es im Chemiepark in Leverkusen zu einer verheerenden Explosion. Sieben Mitarbeiter sterben, viele werden verletzt. Für die Hinterbliebenen bleibt der Schmerz gewaltig. Das Ansehen des Betreibers hat stark gelitten.

Leverkusen: Schwere Explosion im Chempark - Rauchwolke über Bürrig
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Schwere Explosion in Leverkusen

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Foto: Miserius, Uwe (umi)

Um 9.37 Uhr explodiert Lagertank Nummer drei. Ein verheerender Brand greift in der Sondermüllanlage im Chemiepark Leverkusen um sich. Sieben weitere Tanks werden zerstört. An diesem 27. Juli 2021 sterben sieben Männer, 31 Menschen werden teils schwer verletzt. Frauen verlieren ihre Partner, Kinder ihre Väter. „Ich fühle mich wie amputiert“, sagt eine Hinterbliebene ein Jahr danach.

Leverkusen-Bürrig: der Tag nach der Explosion im Chempark
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Leverkusen am Tag nach der Explosion im Chempark

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Foto: dpa/Currenta

Ihr Mann hatte an dem Tag Frühschicht. Das Paar war glücklich mit der kleinen Tochter, sie hatten ein Haus gekauft, Träume und Pläne. Die Katastrophe im Chemiepark des Betreibers Currenta stürzte sie und andere Familien in einen Abgrund.

„Irgendwie funktioniert man“, schildert sie der Deutschen Presse-Agentur. Ihr Name ist der dpa bekannt, wird aber auf Wunsch der Betroffenen nicht genannt. Wie sieht es tatsächlich in ihr aus? „Schmerz, Verlust, Wut, Hoffnungslosigkeit, Perspektivlosigkeit, endloses Vermissen.“ Alles ist aus den Fugen geraten. „Seit dem Tag ist die Zeit für uns irgendwie stehen geblieben.“ Einen Berg voller Aufgaben gilt es trotz Trauer zu bezwingen. „Allein hätte ich das kaum bewältigt.“

Dabei wirkt die Witwe stark. „Für meine Tochter.“ Familie und Freunde unterstützen sie. Zunächst ging sie zu einem Therapeuten, derzeit besucht sie eine Trauergruppe in einem Hospiz. Vor allem die Gespräche mit anderen Hinterbliebenen tun ihr gut. „Unsere Männer sind zusammen gestorben. Wir können uns ineinander hineinversetzen, etwas Trost finden.“

Das Unglück habe die Stadt ins Mark getroffen, betont der Leverkusener Oberbürgermeister Uwe Richrath. Dem SPD-Politiker ist das Unglück noch im Detail präsent. „Eine derartig lautstarke Explosion, die Gebäude erschüttert hat und noch kilometerweit zu spüren war, verbunden mit einer solch gewaltigen Feuersäule hat es hier noch nicht gegeben“, erinnert er sich. „Das ungeheure Erschrecken nach der Detonation, das Heulen der Sirenen, die schwarze Rußwolke, die über die Stadt zog – und dann das furchtbare Wissen um die vielen Verletzten und dass sieben Menschen, die dort zum Zeitpunkt der Explosion gearbeitet hatten, das Unglück nicht überlebt haben - das wird kaum jemand von uns je vergessen.“

Currenta will am 27. Juli um 9.37 Uhr eine Schweigeminute an allen drei Chemiepark-Standorten abhalten, also auch in Dormagen und Krefeld. Das Unglück in einem der größten Chemieparks in Europa löste bundesweit Entsetzen aus. In der Stadt mit 167 000 Einwohnern ging auch die Angst vor Gesundheitsschäden um. Das Landesumweltamt gab später Entwarnung. Doch Currenta verlor viel Vertrauen und Ansehen.

Die Betroffenen quält die Frage, wie es zu der Katastrophe kommen konnte, wer Schuld hat. „Ich hoffe wirklich sehr, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Auch wenn es unsere Liebsten nicht wieder zurückbringt“, sagt die Hinterbliebene. Man werde stets vertröstet, es dauere noch. Ihr Anwalt habe bisher keine Akteneinsicht erhalten.

Die Kölner Staatsanwaltschaft ermittelt gegen vier Currenta-Beschäftigte unter anderem wegen fahrlässiger Tötung. Sie stehen im Verdacht, ihre Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit Lagerung und Abfallbehandlung verletzt und das Unglück damit ausgelöst zu haben. Die Untersuchungen würden mit größtmöglicher Beschleunigung betrieben, versichert eine Staatsanwältin. Den Mitarbeitern in der Anlage sollen nicht alle Informationen zu Temperatur-Empfindlichkeit und Gefährlichkeit des Abfalls vorgelegen haben, stellte ein Bericht des NRW-Umweltministeriums vom Juni fest.

„Die Opfer und ihre Angehörigen haben einen Anspruch darauf, dass transparent und lückenlos aufgeklärt wird“, heißt es bei der Stadt Leverkusen. Die Familien brauchten Antworten. „Eine sorgfältige juristische Aufarbeitung dauert aber ihre Zeit.“

Zwei Gedenkstätten plant Currenta, eine in der Nähe des Explosionsorts: eine Skulptur aus sieben Kuben - sinnbildlich für die Verstorbenen, wie ein Sprecher erläutert.

Sieben Tote, sieben zerstörte Familien. Welche finanziellen Hilfen leistet Currenta? „Der Verlust eines Menschen ist nicht mit Geld aufzuwiegen – das ist uns bewusst“, sagt der Unternehmenssprecher. Es sei dem Betreiber wichtig, die Angehörigen „bereits vor Abschluss der Ermittlungen auch finanziell zu unterstützen“. Nähere Angaben macht Currenta auf Anfrage nicht und begründet das „mit Rücksicht auf die berührten Persönlichkeitsrechte“. Der Betriebsrat hatte für die Hinterbliebenen eine mittlere fünfstellige Summe gesammelt, Currenta hat den Betrag verdoppelt. Entschädigung oder Schmerzensgeld sind nach dpa-Informationen bisher nicht geflossen.

Dem Unternehmen sei klar, dass das öffentliche Ansehen erheblichen Schaden genommen habe, unterstreicht Currenta-Chef Frank Hyldmar auf der Firmenseite. Man wolle mit vielen kleinen Schritten wieder Vertrauen zurückgewinnen. Aber auch nach der Katastrophe kam es zu Zwischenfällen. 1,3 Millionen Liter Abwasser entwichen monatelang unbemerkt aus einem Tank. Im Januar wurden vier Menschen bei einer Verpuffung verletzt. Gut zehn Monate nach dem Unglück hat Currenta die Müllverbrennungsanlage wieder teilweise in Betrieb genommen.

 Genau ein Jahr nach der schweren Explosion mit mehreren Toten haben die Hinterbliebenen immer noch zu kämpfen. (Archivfoto)

Genau ein Jahr nach der schweren Explosion mit mehreren Toten haben die Hinterbliebenen immer noch zu kämpfen. (Archivfoto)

Foto: dpa/Oliver Berg

Die Witwe hat den Unglücksort kurz nach dem Unfall zweimal gesehen. „Ich hatte das Gefühl, das zur Verarbeitung tun zu müssen.“ Am 27. Juli wird sie am Grab ihres Mannes sein. Wie es für sie und ihre Tochter weitergehen soll, weiß sie nicht genau. Noch ist die Kleine zu jung, um zu verstehen. „Aber wenn sie wirklich begreift, wird es umso schwieriger für uns. Dann werden wir professionelle Hilfe brauchen.“

(kag/dpa)
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