Leverkusen "Ikarien" - warum ein Arzt mit den Nazis paktierte

Leverkusen · Uwe Timm las im Spiegelsaal von Schloss Morsbroich.

 Uwe Timm las im Spiegelsaal von Schloss Morsbroich.

Uwe Timm las im Spiegelsaal von Schloss Morsbroich.

Foto: dpa (Archiv)

Es sei selten, sagte Manfred Gottschalk eingangs, dass ein Buchautor zweimal zu "Museum Litterale" komme, dem Format, das von Gottschalk in Zusammenarbeit mit Museum Morsbroich und KulturStadtLev entwickelt wurde. Nun kam Bestsellerautor Uwe Timm nach 16 Jahren also zum zweiten Mal. "Damals war der Spiegelsaal - passend zum Roman - ganz in Rot getaucht", erinnerte sich Gottschalk. Diesmal fehlte Farbe, obwohl Braun eigentlich gut gepasst hätte. Schließlich spielt die Geschichte aus Timms brandneuem Romans "Ikarien" im Nachkriegsdeutschland des Jahres 1945.

Erzählt wird aus dem Leben des fiktiven jungen Soldaten Michael Hansen, der als amerikanischer Offizier in das Land seiner Geburt nach Deutschland zurückkehrt und dort im Auftrag des Geheimdienstes recherchiert. Er soll herausfinden, welche Rolle der deutsche Arzt Alfred Ploetz im Nazireich spielte. In einem Münchner Antiquariat trifft der Soldat auf Wagner, einen frühen Weggefährten des Gesuchten. Ploetz gilt tatsächlich als Begründer der Eugenik in Deutschland, der den Begriff "Rassenhygiene" prägte. Von Wagner lässt sich Hansen die Geschichte einer Freundschaft erzählen, die Ende des 19. Jahrhunderts begann und die Männer bis nach Amerika in das utopische Projekt der Gemeinde "Ikarien" führte, das wiederum nach Vorbild des französischen Revolutionärs Étienne Cabet entstanden war. Durch die Lebensbeichte Wagners kommt Hansen den Machenschaften auf die Spur, die Ploetz mit den Nazis einging. Im Buch betrachtet Timm durch Hansens Augen aber nicht nur das zerstörte Deutschland und die anschließende Zeit des Aufbruchs. Sondern er versucht zugleich, dem Unfassbaren näher zu kommen und eine Antwort auf die Frage nach der Mittäterschaft und deren Mitschuld zu finden. Am Ende stehen Verwirrung und Abscheu. Die Tatsache, dass Ploetz der Großvater seiner Ehefrau ist, macht die Sache für den Verfasser nicht unbedingt angenehmer. Und das, obwohl Timm erst geboren wurde, als der Mann schon tot war.

Timm las leise und bedächtig, aber betont. Leider sprang er ziemlich quer durch das Buch. Für Hörer, die das 512 Seiten starke Drama bislang nicht kannten, waren die Zusammenhänge nicht einfach zu verstehen. Zwar ist der Text durchgehend und chronologisch geordnet. Aber die Materie ist alles andere als leicht: Es geht um Rassenlehre der Nazis, Judenverfolgung, Euthanasie-Programm, Eugenik, Lebensborn und Zuchtversuche an Kaninchen und Menschen sowie Vernichtung von so genanntem unwerten Leben. In gewisser Weise verbindet "Ikarien" sogar Vergangenheit und Gegenwart, in der rechtspopulistische und nationalistische Bewegungen für manche wieder attraktiv werden.

(RP)
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