Region Als Röschen den Wald kennenlernte

Leverkusen · Vor drei Jahren fand Rainer Haack vor seinem Gartenzaun in Lüttringhausen ein sterbendes Kitz. Er päppelte es auf, nannte es Röschen und brachte ihm alles bei, was es wissen musste. Bis heute sind sie dicke Freunde.

Region: Als Röschen den Wald kennenlernte
Foto: Moll Jürgen

Schon aus der Ferne entdeckt Rainer Haack von seiner Terrasse Röschen am Waldrand. Trotz ihres zunehmenden Bauchumfangs springt das Reh über die Wiese, spaziert fröhlich durch das Gartentor und sucht sich ein schattiges Plätzchen. Rainer Haack hat ein Glänzen in den Augen, das ein bisschen an Vaterstolz erinnert. Und als er das Tier mit seiner ruhigen Stimme begrüßt und sich auf die Treppe setzt, da schmiegt Röschen kurz den Kopf an seine Schulter.

"Jetzt, wo sie schwanger ist, sucht sie noch mehr die Geborgenheit unseres Gartens", sagt Rainer Haack, während er dem Reh mit einer Bürste durch das Fell streift. In den nächsten Tagen wird sie ein oder vielleicht zwei Kitze zur Welt bringen. Die Kleinen werden ihrer Mutter nicht so ähnlich sein, wie andere Kitze. Denn Röschen hat eine Geschichte.

Die beginnt vor drei Jahren: Röschen ist kaum einen Tag alt, als Rainer Haack sie sterbend vor seinem Gartentor entdeckt. Das Muttertier ist nicht in Sicht, und von der Jägerin sollte er später erfahren, dass Röschens Zwillingsbruder bereits am Tag zuvor ums Leben gekommen war. "Kitze haben keine gute Überlebenschance ohne Mutter", sagt Rainer Haack. Denn ihnen fehle die wichtige Biestmilch. Deshalb empfiehlt die Jägerin damals, das Tier zu erschießen. "Aber sehen Sie sich Röschen doch an", sagt Rainer Haack und zeigt auf seinem Handy ein Bild aus Kitz-Tagen, "den Knall hätte ich nie überwunden." Damals werden das Reh und Rainer Haack Freunde fürs Leben. Alle zwei Stunden versucht der Lüttringhausener das Kitz mit Biestmilch von der Ziege zu füttern. Aber Röschen versteht nicht, wie sie an der Flasche saugen soll. Also steigt Rainer Haack auf kleine Spritzen um, mit denen er die Biestmilch in Röschens Maul gibt. Auch nachts klingelt alle zwei Stunden der Wecker, die Milch muss auf 39,5 Grad erwärmt werden, sonst nimmt Röschen sie nicht. Muttertemperatur.

Carmen und Rainer Haack sagen zwei Urlaube ab und sammeln Tag für Tag Säcke voller Löwenzahn und Spitzwegerich. Und es funktioniert. Röschen wächst, schläft in einer Kiste im Keller, später im Gras im Garten, stibitzt Blätter von den Bäumen und wird Teil der Familie. "Für mich war immer klar, dass sie irgendwann im Wald leben wird", sagt Rainer Haack. Im ersten Winter zieht er also mit Röschen los, zeigt ihr, wie sie Eicheln finden kann und sich im Wald zurechtfindet. Das Reh versucht, Kontakt zu anderen Rehen aufzunehmen, und scheitert. "Ein Kitz ohne Mutter hat da keine Chance", sagt Haack. Und trotzdem: Das Gartentor lässt er weit offenstehen. Eines Tages ist Röschen weg. "Damals dachte ich: Das war es jetzt. Die kommt nicht wieder", erinnert sich Rainer Haack, "das war gar nicht so leicht für uns." Aber Röschen kommt wieder. Jenseits des Zaunes lebt sie seitdem ein wildes Leben als Reh, sie scheut, reagiert auf jedes Geräusch, schließt sich doch noch einer Gruppe an und irgendwann entdeckt Rainer Haack sie mit einem Böcklein am Waldesrand. "Ihr erster Freund", sagt er und grinst.

Aber wenn Röschen den Schritt durch das Gartentor geht, dann verliert sie die Angst und die Scheu. Hier scheint sie sich sicher zu fühlen. Vielleicht auch deswegen bringt sie keine fünf Meter entfernt vom Gartenzaun vor einem Jahr ihre ersten beiden Kitze zur Welt. "Damals zeigte sie uns ihre Kinder voller Stolz", erinnert sich Rainer Haack. Er vermeidet es, die Kitze zu berühren. Und sie finden mit ihrer Mutter den Weg in den Wald. Aber Röschen bleibt bei ihren Besuchen im Garten - auch heute noch. Die Jägerin sagt, das Reh sei auf den Garten und Rainer Haack geprägt. Sie habe ihn als seine Mutter anerkannt. In diese Rolle schlüpft er gerne. Er verwöhnt sie mit Leckerlis, hin und wieder zwickt er sogar Zweige von den Obstbäumen ab. "Richtig streng kann er mit ihr gar nicht sein", sagt Ehefrau Carmen und lacht.

Mit den Jägern hat Rainer Haack inzwischen eine Vereinbarung getroffen. Sie verschonen sein Röschen. Und taucht jemand auf dem Hochstand auf der Wiese auf, erinnern auch die Nachbarn an das besondere Reh. "Nicht schießen", sagen sie dann, "da vorne läuft Röschen." Nur vor den Hunden hat Rainer Haack Angst. Davor, dass sie sein Reh eines Tages erwischen und reißen oder sie zu Tode hetzen.

Aber für heute ist Röschen in Sicherheit - im Garten bei Rainer Haack.

(RP)
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