RP-Serie Ein Selbstversuch (Teil V und Ende) Geschafft: Wenn die Nordsee glücklich macht

Langenfeld · Die monatelange Vorbereitung hat sich gelohnt. Der Silvesterlauf über zehn Kilometer ist eine Strapaze – und er bringt irre viel Spaß.

 Gut unterwegs – noch. Auf der ersten Runde geht alles ziemlich locker von der Hand. Gleich wartet die Verpflegungstation und etwas später ist die Hälfte geschafft. Mein Trainer wird vermutlich erkennen, dass wir auch am Laufstil was tun können.

Gut unterwegs – noch. Auf der ersten Runde geht alles ziemlich locker von der Hand. Gleich wartet die Verpflegungstation und etwas später ist die Hälfte geschafft. Mein Trainer wird vermutlich erkennen, dass wir auch am Laufstil was tun können.

Foto: DKMRT

Wir haben Ende Dezember und trotzdem fällt mir plötzlich etwas von Juli ein: „Es war ’ne geile Zeit.“ Hinter mir liegen fast sieben Monate, in denen mein kleiner Computer am Handgelenk und ich tatsächlich so etwas wie Vertraute geworden sind. Freunde wäre übertrieben. Nach einem Gespräch mit Kim Steinigans, meinem Trainer im Sportpark Landwehr, wird damals meine Läuferkarriere geboren. Das Zauberwort: Herzfrequenzgesteuertes Ausdauer-Training. Oberstes Ziel ist, am Ende des Jahres wieder vernünftig zehn Kilometer am Stück zu bewältigen. Manchmal denke ich: Das Glas ist halb voll. Sicher schaffst du das. Es gibt auch die anderen Momente: Das Glas ist halb leer. Du willst zu viel. Zum Glück weiß ich früh genug, dass ich es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht in weniger als einer Stunde schaffen kann – was ganz am Anfang die (zu) kühne Idee ist. Ich genehmige mir einen Zuschlag. Statt sechs Minuten pro Kilometer dürfen es sieben sein. Neue mathematisch-nüchterne Wunschzeit also: 1:10,00 Stunden. Es fühlt sich trotzdem an wie ein Traum, der gerade in Erfüllung geht. Mein persönlicher Silvesterlauf am 31. Dezember 2018 zeigt – ja, was denn eigentlich? Dass sich Einsatz und Ausdauer lohnen, zum Beispiel. Dass dir so viele die Daumen drücken. Dass du Herz und Kreislauf trainierst. Und nicht zuletzt: Dass es irre viel Spaß macht.

 Da hinten werden wir laufen: Streckenkontrolle mit dem Meer im Rücken – das hat was.

Da hinten werden wir laufen: Streckenkontrolle mit dem Meer im Rücken – das hat was.

Foto: DKRMT/DKMRT

Der Countdown, 23. Dezember 2018 Mein Programm schreibt mir für den beginnenden Endspurt in der Vorbereitung eine mittellange Einheit vor. Gemeint sind 45 Minuten bei erträglicher Belastung. Was anders ist: Ich bin nicht mehr wie meist im Herbst und Winter auf dem Laufband unterwegs, sondern mitten in der Natur. Los geht es an unserem Ferienhaus in jenem kleinen Ort an der dänischen Nordsee. Durchs Dorf nehme ich bald den kleinen Anstieg zum Strand. Ein paar Einheimische grüßen freundlich. Dass da ein verrückter Urlauber in kurzer Hose bei wenig über null Grad unterwegs ist, entlockt ihnen keine erkennbare Gemütsregung. Sie werden sich vermutlich ihren Teil denken. Bei mir läuft alles nach Plan – abgesehen davon, dass die Batterie für die Bluetooth-Verbindung vom Brustgurt zur Uhr am Handgelenk ihren Dienst einstellt. Ich mache ohne Frequenz-Kontrolle weiter. So wird es ja beim Wettkampf auch sein.

26. Dezember 2018 Wahrscheinlich wissen sie beim finnischen Hersteller meiner Hard- und Software, dass sie selbst gerne ein bisschen Weihnachten feiern. Nach einem freien Heiligabend und einem freien 1. Weihnachtstag fordern mich die Polar-Macher deshalb nur zu einer halben Stunde „lockeres Joggen“ auf. Die Belastung ist moderat und mein Laufshirt bleibt trocken. Am Morgen auf meiner Runde zum Bäcker habe ich in meiner dicken Winterjacke mehr geschwitzt.

 Mauertaktik: Die zehn Kilometer bei Wind und Wetter haben offensichtlich Spuren hinterlassen.

Mauertaktik: Die zehn Kilometer bei Wind und Wetter haben offensichtlich Spuren hinterlassen.

Foto: DKMRT

27. Dezember 2018 Es wird interessant, denn eine Intervall-Einheit über 40 Minuten steht auf dem Programm. Nach dem kleinen Anstieg am Strand biege ich scharf links ab und auf den Deich ein, der Silvester eine zentrale Rolle einnehmen soll. Die Intervalle, bei denen ich auch den roten (höchsten) Bereich nutzen soll, funktionieren ideal – fast jedenfalls. Über fünf Kilometer stehen am Ende auf der Uhr und ich bin ganz zufrieden mit mir. Der Rotwein am Abend zuvor hat also keinen größeren Schaden angerichtet.

30. Dezember 2018 In der Fachsprache mögen sie es gerne „Anschwitzen“ nennen: 35 Minuten, mittellanger Lauf in mittlerer Belastung. Ich denke unterwegs darüber nach, was denn eigentlich der Unterschied zu einem kurzen Lauf ist. Oder zu lockerem Joggen? Weil ich keine richtige Lösung finde, rufe ich mich selbst zur Ordnung: Befolge einfach das, was dein Computer dir sagt. Er weiß, was zu tun ist.

Nacht vom 30. auf 31. Dezember Gegen drei Uhr morgens werde ich wach. Nervös? Angespannt? Würde ich öffentlich empört abstreiten. Tatsächlich beginne ich aber zu grübeln. Muss das alles wirklich sein? Du könntest dir eine Ausrede einfallen lassen. Probleme mit dem Sprunggelenk oder Rückenschmerzen, die dich seit Langem beschäftigen. Ich nehme mir das Buch des früheren Handball-Nationalspielers Stefan Kretzschmar, das ich zu Weihnachten geschenkt bekommen habe, und lese das erste Kapitel. Da geht es um seinen früheren Trainer Alfred Gislason, der den verletzten Linksaußen gegen dessen Willen zu einem Einsatz in einem Spiel des SC Magdeburg „überredet“. Mit drei Worten: „Mann oder Maus?“ Spätestens jetzt gibt es kein Entrinnen mehr. Ich bin dabei. Doch ich beschließe kurzerhand, alles auf links zu drehen. Soll heißen: Wir laufen die Strecke, die wir vorher ausgetüftelt haben. Aber im Uhrzeigersinn und nicht dagegen. In der Trainingslehre würden sie wohl sagen, dass wir neue Impulse setzen.

31. Dezember 2018, 11 Uhr Nach einer letzten taktischen Besprechung, in der wir vor allem über die Wahl der Getränke für den Silvesterabend reden, geht es los. Den ersten Kilometer wollen wir zum Warmmachen nutzen. Ein paar Übungen vorher und dann warten bis zum Start? Kannst du bei winterlichen fünf Grad vergessen. Rasch biegen wir nach rechts ab auf einen Fahrradweg am Fjord vorbei. War diese Steigung wirklich schon immer da? Es ist nicht mal so viel, aber sie zieht sich und will überhaupt nicht aufhören. Endlich können wir nach rechts auf den Deich abbiegen. Es wartet der nächste Irrtum mit Folgen: Der Wind, den wir vorher kaum gespürt haben, erwischt uns von vorne links und ist für die nächsten anderthalb Kilometer unser Begleiter. Ich denke mir nicht viel dabei. Unser Kurs führt uns wieder nach rechts und 500 Meter weit entfernt entdecke ich unsere erste Getränkestation. Es ist wie bei den Großen. Ich nehme die kleine Plastikflasche und einen Schluck Wasser. Erstaunlich: Wir verlieren kein Tempo. Durchs Dorf erreichen wir über die Hauptstraße jene Stelle, die wir als Halbzeit markiert haben. Ich jubele innerlich. Wir liegen voll im Plan und ich denke mir nichts Böses. Noch nicht.

Wir erreichen wieder den Weg am Fjord. Und der kleine Hügel kommt mir jetzt plötzlich wie ein Berg in den Alpen vor. In der nächsten halben Stunde werde ich ungefähr 20 Mal daran denken, auszusteigen. Der Gegenwind auf dem Deich scheint auf einmal Orkanstärke zu haben. Später werden wir zwar feststellen, dass wir fast perfekte Bedingungen haben – aber ich habe kein Auge mehr für die Möwen am Meer, die rauschenden Wellen am Strand und die vielen fröhlichen Spaziergänger, die uns entgegenkommen. Der Blick auf meinen Computer sagt mir, dass wir langsamer werden. Ist das überhaupt noch Laufen? Oder vielleicht eher betreutes Gehen?

Nach Kilometer acht ist das Schlimmste vorbei und ich spüre, dass ich wohl halbwegs an einem Stück ankommen werde. Der letzte Kilometer: Adrenalin pur. Für einen Schluss-Spurt bin ich dennoch längst zu müde. Da hinten ist aber das Ziel. Wie passend: Wir haben eben die Dorfkirche passiert und die Zehn-Kilometer-Marke befindet sich direkt an der Friedhofsmauer. Da kann ich mich abstützen – und auf meine Uhr schauen. Was ich lese, haut mich um: 1:09,57 Minuten. Wir haben es tatsächlich geschafft.

Etwas später schicke ich die Daten meinem Trainer. Seine Antwort kommt schnell: „Freut mich zu hören und die Zeit ist auch in Ordnung. Belohne dich heute und im neuen Jahr geht es eine Klasse höher. Versetzung bestanden!“ Ich danke Kim für die freundlichen Worte – und dafür, dass er mich überredet hat. Der Erfolg gibt ihm Recht und die Fortschritte für Herz und Kreislauf kann ich in der Datenbank nachschauen.

Ein ganz dickes Danke verdient haben auch Dörte und Tanja, die unter anderem als Streckenposten für die Getränke, Anfeuerung, moralische Unterstützung und Fotos gesorgt haben. Und ohne meine beiden Tempomacher Katharina und Robert hätte ich die kritischen Phasen auf der Strecke bestimmt nicht überstanden. Vielleicht knacken wir 2019 die Ein-Stunden-Marke? Ich werde ja ab jetzt nicht den ganzen Tag im Bett verbringen. Am Abend belohnen wir uns dann natürlich alle gemeinsam. Beim Silvesterfeuerwerk im Dorf fällt mir noch einmal Juli ein: „Es war ’ne geile Zeit.“

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