Erziehungsberatung gibt Tipps Geschwister: Kraftquelle fürs Leben

Monheim · Konflikte zwischen Geschwistern sorgen in der Familienberatung immer wieder für Gesprächsbedarf.

 Diplom Psychologin Iris Welter kennt sich mit der Beziehung zwischen Geschwistern aus. 

Diplom Psychologin Iris Welter kennt sich mit der Beziehung zwischen Geschwistern aus. 

Foto: Matzerath, Ralph (rm)/Matzerath, Ralph (rm-)

Brüder und Schwestern sind enge Spielkameraden, doch ohne Streit geht es meistens nicht. Manche trennen mehrere Jahre. Andere wachsen als Einzelkinder auf. Gerade während der Corona-Krise sind Geschwister auf einander angewiesen. Diplom Psychologin Iris Welter berichtet anlässlich des Aktionstages „Geschwister“ am 10. April über ihrer Erfahrungen.

Inzwischen wächst in Deutschland fast jedes zweite Kind ohne Geschwister auf, warum ist das so?

Welter Das ist eine komplexe Frage, deren Beantwortung auch gesellschaftliche und politische Gründe miteinbeziehen muss. Es ist übrigens keine rein deutsche Entwicklung sondern eine, die überall in Europa beobachtet werden kann. Abitur und ein langes Studium sind heute in westlichen Ländern üblich geworden. Danach folgt ein schwieriger Zugang zum Arbeitsmarkt. Wer möchte ohne Festanstellung ein Kind in die Welt setzen? Die Frauen bilden da keine Ausnahme mehr. Auch sie wollen materielle Sicherheit und Unabhängigkeit. Jede zweite Mutter ist bei der ersten Geburt ihres Kindes zwischen 30 und 39 Jahre alt. Selbst wenn der Wunsch nach mehreren Kindern besteht, klappt das dann nicht immer. Außerdem sind die Ansprüche in der Gesellschaft gestiegen. Man will sich seinem Kind widmen können, ihm Aufmerksamkeit und Wohlstand bieten können. Das wäre bei sechs Kindern in diesem Maße nicht möglich.

Sind Einzelkinder tatsächlich unsozial und egoistisch?

Welter Die Frage wird oft gestellt,  und es gibt auch viele Untersuchungen dazu. Mir ist keine einzige bekannt, die das klar bestätigt.

Kinder brauchen andere Kinder. Kontakte sind zwar in Zeiten von Corona deutlich reduziert bis komplett eingestellt, aber gerade Geschwister sind deshalb jetzt mehr aufeinander als Spielkameraden angewiesen als sonst. Doch das klappt nicht immer gut. Stattdessen gibt es sogar Streit und Machtkämpfe. Warum?

Welter Streit und Machtkämpfe unter Geschwistern sind normal. Konflikte lassen sich in Beziehungen niemals ganz vermeiden. Die Kinder konkurrieren um die Aufmerksamkeit der Eltern. Das älteste Kind hatte mal hundert Prozent der Aufmerksamkeit. Kommt ein Geschwisterkind, wird es 50 Prozent davon abgeben müssen. Das ist nicht leicht. Interessant ist, dass sich Geschwister oft erstaunlich gut verstehen, wenn sie aufeinander angewiesen sind oder äußere Bedrohungen bestehen. So kenne ich Geschwister, die im Urlaub plötzlich miteinander spielen, weil die Freunde als Alternative wegfallen. Oder sie helfen einander im Konflikt mit anderen Kindern. Wir werden noch sehen, wie sich die Corona-Krise im Hinblick auf die Beziehungen auswirkt. Bei älteren Kindern, die schon Erfahrung im Umgang mit Konflikten haben, könnten die Eltern auch mal sagen: ,Ihr könnt selbst entscheiden: entweder ihr langweilt euch alleine oder ihr sucht nach einer Lösung für den Konflikt. Wir helfen euch gerne dabei.’ Dann sollten sie aber auch akzeptieren, wenn die Kinder eine Zeit lang für sich schmollen wollen. Wahrscheinlich sieht das in ein paar Stunden schon anders aus. Gerade in der jetzigen Situation kann der Wert eines Spielkameraden nicht hoch genug eingeschätzt werden. Das merken auch die Kinder.

Die Beziehung zur Schwester oder zum Bruder ist oft die längste im Leben. Das bedeutet auch, sich immer wieder zu arrangieren. Was lernen Kinder dabei?

Welter Ja, es ist die längste Beziehung. Keiner kennt unsere Herkunft und Erfahrungen besser. Am Grab der Eltern sind sie es, die den gleichen Verlust erleiden. Beim Erben können dann wieder alte Wunden aufreißen, Gefühle, immer benachteiligt worden zu sein. Rivalität und Zuneigung sind die beiden Seiten einer Medaille. Ein Geschwisterteil kann auch eine ungeheure Kraftquelle für das ganze Leben sein.

Sollen oder können Eltern alle Kinder gleich behandeln, oder muss es in der Erziehung andere Strategien geben?

Welter Im Gegenteil. Die Kinder sollten entsprechend ihrem Alter, ihrer Persönlichkeit und ihren Anlagen behandelt werden. Da Geschwister – mit Ausnahme von Zwillingen – ein unterschiedliches Alter haben, sollten die Rechte und die Pflichten darauf abgestimmt sein. Das größere Kind hat zwangsläufig mehr Pflichten, doch auf der anderen Seite sollten das größere Freiheiten ausgleichen. Das macht es für Eltern vielleicht komplizierter, doch es wäre nicht fair, wenn alle zur gleichen Zeit ins Bett müssten.

Im Gegenzug können Geschwister sich gegen die Eltern verbünden. Das schweißt zusammen. Einzelkinder bleiben da Einzelkämpfer.Was lernen sie jeweils fürs Leben?

Welter Das kennen sicher alle Eltern: das Nutella-Glas ist leer gegessen oder eine Tasse ist zerbrochen. Wer war das? Wenn die Kinder da zusammenhalten, sind die Eltern ziemlich machtlos. Wenn das freiwillig geschieht, ist es ein Zeichen von Loyalität und schweißt die Kinder zusammen. Einer kann sich auf die Unterstützung des anderen verlassen. Man muss natürlich aufpassen, ob das mächtigere Kind das schwächere unter Druck gesetzt hat. An der Stelle haben es Einzelkinder leichter. Dafür haben sie weniger Erfahrung mit Konflikten, Verhandlungen und Kompromissen. Wenn sie sich mit der Freundin streiten, können sie gehen. Das können Geschwister untereinander nicht.

Wie beeinflussen Väter und Mütter das Verhalten ihrer Kinder untereinander?

Welter Eltern können viel dafür tun, damit Kinder einen Umgang mit ihren Konflikten lernen. Vor allem sollten sie sich nicht zum Richter machen. Meist haben sie ja gar nicht mitbekommen, wie ein Streit genau begann. Und es ist gut möglich, dass jedes Kind glaubt, nur auf die Provokation des anderen reagiert zu haben. Oft werden sie dann von den Kindern lautstark um Hilfe gerufen. Die ist dann auch nötig. Sie brauchen Eltern, die jedem Kind Raum geben, seine Sicht vorzutragen. Anschließend können sich alle gemeinsam eine Lösung überlegen. Zunächst werden die Eltern noch Vorschläge machen müssen. Doch mit der Zeit werden die Kinder erfahrener mit Konflikten und können selbst Lösungsvorschläge machen. Meist werden die Konflikte so ab dem Grundschulalter weniger heftig. Gut ist es auch, wenn jedes Kind mal Papa und Mama für sich alleine hat. Denn auch feste Aufteilungen können Eifersucht schüren. Jedes Kind braucht einen guten Kontakt sowohl zur Mutter als auch zum Vater.

Was, wenn die Geschwister sich nicht mögen?


Welter Geschwister kann man sich nicht aussuchen, sie sind Schicksalsgefährten. Kinder suchen sich meist unterschiedliche Rollen innerhalb einer Familie. So können sie der Rivalität aus dem Wege gehen, entwickeln sich aber in verschiedene Richtungen. Die Spielkameraden sucht man sich aber meist nach ähnlichen Interessen aus. Auch das ist ein Grund, warum Geschwister eine Zeit lang weniger miteinander zu tun haben. Das Verhältnis kann sich aber wieder ändern, wenn sie älter sind. Häufig werden dann aus den alten Streithähnen doch noch Verbündete fürs Leben.

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