Langenfeld Aus der "Heldenstadt" nach Langenfeld

Langenfeld · Der gebürtige Leipziger Harald Martin hielt es in der DDR nicht mehr aus. Den Mauerfall vor 25 Jahren erlebte er bereits im Westen. Heute gestaltet der 53-Jährige die Langenfelder "Schaulust" und ist froh, in einem freien Land zu leben.

 Froh, in einem freien Land zu leben: Harald Martin, in Leipzig aufgewachsen, in Langenfeld zu Hause.

Froh, in einem freien Land zu leben: Harald Martin, in Leipzig aufgewachsen, in Langenfeld zu Hause.

Foto: ralph Matzerath

9. November 1989. In Langenfeld begeistert am Abend Travestie aus Berlin ("Chez Nous") das Stadthallen-Publikum. Gefühlt ist die DDR zu diesem Zeitpunkt für die meisten Rheinländer weit weg - auch wenn allein in Langenfeld und Monheim bereits mehrere hundert Flüchtlinge aus dem SED-Staat untergekommen sind. Über Ungarn und die Tschechoslowakei laufen der DDR die Menschen davon. Händeringend suchen die Städte im Westen nach Unterkünften, sogar die Shell AG hat angeboten, ihr freigewordenes Monheimer Uhrentürmchen-Gebäude für 100 Ostdeutsche zur Verfügung zu stellen.

So also ist die Lage am Rhein, als an jenem Donnerstagabend im November 1989 auf einer Pressekonferenz in Ost-Berlin um kurz vor 19 Uhr die heute berühmten Worte von DDR-Regierungssprecher Günter Schabowski fallen: "Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu West-Berlin erfolgen." Und - auf Nachfrage eines Journalisten: "Das tritt nach meiner Kenntnis... ist das sofort, unverzüglich."

Harald Martin, heute ein Grafiker aus Immigrath, der die "Schaulust" gestaltet, das Programmheft der Langenfelder Schauplatz GmbH, hat an jenem Novemberabend 1989 die DDR schon seit drei Jahren hinter sich gelassen. 1986 war er mit seiner Frau und der vierjährigen Tochter aus Leipzig ins Rheinland übergesiedelt - nach zig Ausreiseanträgen, systematischer Drangsalierung durch den Parteisekretär und andere Linientreue im Betrieb sowie Verhören durch die Stasi. "Die Leipziger Zentrale der Staatssicherheit hatte nicht nur mehrere Obergeschosse. Es ging auch vier Stockwerke unter die Erde. In einer Zelle dort habe ich eine Nacht verbracht", erzählt Martin.

Der gelernte Schriftsetzer und seine Frau wollten raus aus der DDR, um ihrer Tochter die "Rotlichtbestrahlung" in der kommunistischen Diktatur zu ersparen. Er selbst, 1961, zwei Monate vor dem Mauerbau, geboren, hatte im Kindergarten plötzlich mit Russenpanzern statt mit Bauklötzen spielen "dürfen". Wegen solcher Indoktrination, der politischen Gängelung, der Mangelwirtschaft und des zunehmenden Verfalls hielten es Martin und seine Frau nicht mehr aus im SED-Staat. Und weil sie - wie so viele - es nicht für möglich hielten, dass das Regime zu ihren Lebzeiten zugrundegehen würde. "Als die Proteste der Demokratiebewegung ab Sommer 1989 immer mehr anschwollen, habe ich befürchtet: Das endet in Leipzig oder anderswo mit einem Blutbad - wie im Juni '89 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking", sagt der 53-Jährige.

So hat sich der Osten verändert
19 Bilder

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Am 9. November 1989 machte er nach dem Abendessen in seiner Wohnung in Hellerhof, wo er damals wohnte, den Fernseher an. "Tagesthemen oder so etwas. Sie brachten die Bilder aus Berlin, mit Schabowski und dann den vielen Menschen, die über die Grenzübergänge drängten. Das hatte was von George Orwell. Wenn das jetzt ein Fake ist - habe ich gedacht -, dann ist es verdammt gut gemacht!"

Als ihm dann klar wurde: "Das ist echt", sei sein erster Gedanke gewesen: "Jetzt kann ich - nach drei Jahren - meinen Vater in Leipzig wiedersehen! Kann mein Vater endlich seine Enkeltochter in die Arme schließen, die er, anders als meine Mutter, die uns als Rentnerin zweimal besuchen durfte, zuletzt als Vierjährige gesehen hatte!"

Am 6. Dezember 1989 sah Martin erstmals seine Eltern in der "Heldenstadt" wieder, im Februar 1990 holte er sie nach Düsseldorf. Noch standen ja mehr als 300 000 sowjetische Rotarmisten mit über 4000 Panzern in der DDR, war der Zug in Richtung Wiedervereinigung nicht abgefahren. Am 3. Oktober aber - nur in der Rückschau ein logischer Schluss dieses Dramas - feierten Ost und West die deutsche Einheit.

Was vermisst Harald Martin von der DDR? "Nichts." Und was hält er vom Freiheitspathos eines Joachim Gauck? "Lassen wir das große Wort ,Freiheit' mal weg. Ich nenne es lieber ,persönliche Entfaltungsmöglichkeiten'. Wenn man als Hobby-Fotograf sechs Monate auf eine Farbfilm-Entwicklung warten musste, wenn man Bücher, die im eigenen Ost-Betrieb für westliche Verlage gedruckt wurden, Kafka zum Beispiel, wenn man die herstellen, aber nicht lesen durfte, dann weiß man die ganz normale Wirklichkeit in einem Land wie der Bundesrepublik sehr zu schätzen."

(RP)
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