Menschen mit Behinderung stellen Forderungen Rollstuhlfahrer verärgert über Verordnung

Kreis Heinsberg · Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, befürchten ab Januar durch eine neue Verordnung eine erheblich eingeschränkte Teilhabe am gemeinschaftlichen Leben. Sie fordern den sofortigen Stopp und einen „Runden Tisch“.

 Unser Bild zeigt Michaela Sommereisen und Norbert Voigt aus Hückelhoven, die sich beim Kreis Heinsberg beschweren und diesen über die Situation der Rollstuhlfahrer aufklären möchten.

Unser Bild zeigt Michaela Sommereisen und Norbert Voigt aus Hückelhoven, die sich beim Kreis Heinsberg beschweren und diesen über die Situation der Rollstuhlfahrer aufklären möchten.

Foto: Jürgen Laaser/Laaser, Jürgen (jl)

Noch vor zwei Jahren rühmte sich der Kreis Heinsberg damit, dass er für viele andere Kreise und Städte Vorbildcharakter habe, was die im Sozialgesetzbuch verankerten Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft für behinderte Menschen mit dem Merkzeichen „aG“ (außergewöhnliche Gehbehinderung) betreffe. Nun aber, ausgerechnet in der Weihnachtszeit, brennt der „Sozialbaum“. In betroffenen Rollstuhlfahrerkreisen des westlichsten Kreises Deutschlands herrschen Unruhe, Unzufriedenheit und Empörung. Das liegt daran, dass die Prioritäten zwischen dem Kreis und den „Rollis“ auseinander zu driften drohen.

Der Kreis Heinsberg will dem Fahrdienst, den es seit 1981 gibt und dabei mehr als 500 Betroffene (die Zahl ist ansteigend) zählt, ab 2019 eine neue Flexibilität geben. Die besteht darin, dass nicht mehr nur der Kreisverband Heinsberg des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) das Transportmonopol mit sogenannten BTW (Behindertentransportwagen) hat, sondern der Kreis will dieses Monopol auf die Schultern vieler Dienstleister verteilen.

Außerdem deckelt der Kreis den pauschalierten Grundbedarf auf kalenderjährlich 1000 Euro, für Heimbewohner gar auf 500 Euro. Option: Jeder Betroffene kann zwar zusätzlichen Bedarf anmelden, muss sich dann aber einer Überprüfung unterwerfen. Das Amt für Soziales des Kreises teilte dazu mit: „Sollte sich bei der Prüfung herausstellen, dass dieser (Bedarf) aus eigenen Mitteln zu decken ist, kann möglicherweise künftig auch kein pauschalierter Grundbedarf mehr bewilligt werden.“ Im Klartext: Betroffene könnten leer ausgehen.

Das bringt die Rollstuhlfahrer mit außergewöhnlicher Gehbehinderung (aG) auf den Plan. „Als wäre unser Leben nicht schon schwer genug, da wirft man uns jetzt auch noch drohende Knüppel zwischen die Räder.“ Betroffene aus Hückelhoven sind zum Beispiel Michaela Somm­ereisen (55) und Norbert Voigt (57), die nicht nur eine Unterschriftenliste gegen die neue Verordnung mit dem Geschäftszeichen 500300 initiiert haben, sondern dazu auch auf drei DIN-A4-Seiten differenzierte Gedanken zu Papier gebracht haben.

Diese beginnen mit der Feststellung, „dass die zukünftige Regelung der Mobilität für Menschen mit Behinderung im Kreis Heinsberg mit Wirkung vom 1.1.2019 erheblich eingeschränkt wird.“ Schwerwiegend ist die Kostenbegrenzung auf 1000 Euro für das gesamte Jahr, denn bei Fahrten mit einem Behindertentaxi fallen neben der allgemein üblichen Grundgebühr (inklusive zwei Kilometer) von 6,50 Euro und ansonsten zwei Euro je Kilometer dann noch die 7,50 Euro BTW-Zuschlag ins Gewicht. Von Hückelhoven in die Kreisstadt Heinsberg schlagen so für eine Fahrt 30 Euro zu Buche. Fährt ein Rollstuhl-Tischtennisspieler von Erkelenz nach Neuss zu einem Spezialtraining, werden fast 170 Euro fällig. „Die Konsequenz“, sagt Rollstuhl-TT-Spieler Gerhard Frisch (65) aus Erkelenz, „ich kann nicht mehr jeden Monat trainieren, sondern nur noch sechsmal im Jahr, dann nämlich sind die 1000 Euro verbraucht.“

Solch einen Verlust an Lebensqualität hat es in dem seit Jahrzehnten bewährten und vom Sozialamt des Kreises Heinsberg unterstützten Kilometer-System des Roten Kreuzes nie gegeben. Hier standen einem Schwerbehinderten mit dem Merkzeichen „aG“ jeden Monat vier Fahrten zu je 35 Kilometer zur Verfügung, im Jahr also 1680 Kilometer.

Wer Kilometer „sammelte“, der hatte dann sogar die Möglichkeit, eine größere Fahrt in den Urlaub oder zu Verwandten zu unternehmen. Die holländische Küste war zum Beispiel oft das Ziel. Dafür hatten die „Rollis“ von Erkelenz nach Domburg (hin und zurück 500 Kilometer) 16-mal 35 Kilometer einzusetzen, der gleiche Einsatz dann nach 14 Tagen für die Heimreise. Nach der neuen „Formel 500300“ ab 2019 würden da Kosten von über 2000 Euro auflaufen, das Jahresbudget ginge ins Minus. Das würde das Aus für solche Freizeiten bedeuten, weil ansonsten die Teilhabe am öffentlichen Leben mit Kurzfahrten ins Theater, zum Zoo oder auch nur zu einer Karnevalssitzung unter den Tisch fallen würden.

Bisher waren kleine und große Fahrten nur deshalb möglich, weil das Rote Kreuz daraus eine Mischkalkulation entwickelt hatte, die eigentlich alle Betroffenen zufrieden stellte. Gab es dennoch einmal Fahrzeug-Engpässe, dann lag das meist an zu kurzfristigen Planungen seitens der „aGler“. Dazu sagt der Kreis Heinsberg: „Durch die neue Anbieterauswahl wird aber mehr Flexibilität gewonnen“.

Dass die Behinderten bei den Kosten in Vorleistung gehen müssen, ist für den Kreis ein Muss. „Und für uns fatal“, gerät der 90-jährige ehemalige Diplomfinanzwirt Jakob Nießen aus Baal in Rage: „Wer kann sich so etwas dann überhaupt noch leisten? Ich war dank der bisherigen Kilometer-Regelung am Bodensee, davon zehre ich noch heute. Aber jetzt ist der Genuss dann wohl vorbei.“ Und er fährt schweres Geschütz gegen die Kreisverwaltung auf: „Genau diese Situation ist aber so von denen gewollt, weil es immer mehr aG-behinderte Menschen gibt, die am Leben teilhaben wollen. Es ist Scheinheiligkeit, uns die neue Regelung mit mehr Flexibilität verkaufen zu wollen.“

Michaela Sommereisen und Norbert Voigt haben, was die Flexibilität betrifft, festgestellt, dass viele Taxiunternehmen den Service, Rollstuhlfahrer zu befördern, häufig an Wochenenden, Sonn- und Feiertagen und auch nachts gar nicht zu leisten in der Lage sind. Schließlich geht es ja auch darum, nicht nur Taxifahrer, sondern auch Fachkräfte am Steuer eines Behindertentransportwagens sitzen zu haben. Aus Unternehmerkreisen kam mehrfach die Aussage, dass es sicher besser gewesen wäre, wenn der Kreis Heinsberg Vertreter aller beteiligten Gruppen zu einem Gespräch an einen Tisch geholt hätte. „Da fehlte wohl beim Kreis etwas Fingerspitzengefühl für das sehr sensible Thema“, meint ein Unternehmer, der zwar zitiert werden darf, aber nicht genannt werden will. Jakob Viethen, Michaela Sommereisen und Norbert Voigt fordern, dass die Kreisverwaltung die Umsetzung der Verordnung 500300 „sofort stoppt und bald einen ,Runden Tisch’ mit allen beteiligten Gruppen einberuft“.

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