Krefeld Was Schüler am Moltke in 200 Jahren lernten

Krefeld · Was stand 1819 für Schüler auf dem Lehrplan? Das Gymnasium am Moltkeplatz feiert sein 200-jähriges Bestehen. Anlass für einen Rückblick auf die Lehrpläne. Latein und Französisch waren lange vorherrschend, Deutsch spielte kaum eine Rolle.

 Das Moltke-Gymnasium feiert in diesem Jahr seinen 200. Geburtstag.

Das Moltke-Gymnasium feiert in diesem Jahr seinen 200. Geburtstag.

Foto: Lammertz, Thomas (lamm)

Wenn Schulfächer Auskunft über das geben, was wichtig ist in einer Gesellschaft, dann war im Jahr 1826 Latein das Allerwichtigste in Krefeld. Die Schüler des Gymnasiums, das heute nach dem Moltkeplatz benannt ist, lernten am intensivsten Latein: In der Stundentafel dieses Jahres waren diesem Fach 23 Wochenstunden zugemessen – die höchste Zahl in dieser Tabelle. Deutsch war mit nur 15 Stunden vertreten (alle Stundenangaben sind Stunden pro Woche pro Schullaufbahn bezogen). Wichtiger als die eigene Sprache war Französisch mit 21 Stunden. Italienisch und Englisch hatten mit je vier Stunden Exotenstatus: Es war gut, mal ’reingehört zu haben. Das Gymnasium am Moltkeplatz feiert seinen 200. Geburtstag; ein historischer Durchgang durch die Stundentafeln spiegelt Zeit- und Bildungsgeschichte wider – und ist ein Lehrstück übers Beharren: Die Vorherrschaft von Latein ist in Deutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg gebrochen worden.

Dabei war Latein als Schulfach schon Anfang des 19. Jahrhunderts begründungsbedürftig. Wozu Latein lernen, wenn nicht alle Schüler die Universität besuchten? Humanistische Bildung und die Fähigkeit, lateinische Autoren im Original lesen zu können, reichten als Legitimation offenbar nicht mehr aus. Der Berliner Pädagoge Friedrich Gedike (1754 -1803) gab 1802 eine Antwort, die sich als wirkmächtig erweisen sollte: Latein schult das Denken. Auch für den Fall, so argumentierte Gedike, dass man als Erwachsener sein Schullatein komplett vergisst, bleibt doch der Vorteil, „deinem Geiste jene Bildung, jene Geschmeidigkeit verschafft zu haben, die auch in deine Geschäfte mit übergeht“. Wissenschaftlich ist das übrigens nicht bewiesen; es gibt Studien dazu mit ernüchterndem Ergebnis. Es gibt demnach keinen Zusammenhang zwischen Lateinlernen und besserem logischen Denken.

Das Moltke-Gymnasium ist ein Beispiel von vielen Schulen, in denen Latein eineinhalb Jahrhunderte lang das dominante Fach in der gymnasialen Bildung blieb. Fast ebenso lange hielt sich die Vorherrschaft des Französischen bei den lebenden Sprachen. Französisch war im 18. Jahrhundert die Verkehrssprache des Adels, die Sprache der Kultiviertheit, Frankreich eine europäische Großmacht. Bekannt ist das Bonmot von Friedrich dem Großen (1712 - 1786), er habe seit seiner Jugend kein deutsches Buch gelesen und behalte das Deutsche „seinen Pferden und Stallknechten“ vor. Am Berliner Hof  sprach man wie der König Französisch.

Ein anderes Fach, das 1826 noch gar nicht als eigene Disziplin geführt wurde, bekam im 19. Jahrhundert am „Moltke“ (das so noch nicht hieß) ein bis dahin nie gekanntes Gewicht: Mathematik. 1882 war immer noch Latein mit 54 Stunden das Fach mit den meisten Schulstunden, an zweiter Stelle stand nun mit 44 Stunden „Rechnen und Mathematik“.

Bei den lebenden Sprachen blieb Französisch mit 34 Stunden dominant, Englisch kam nun immerhin auf 20 Stunden. Deutsch ist mit 27 Stunden deutlich nach vorn gerutscht. Bemerkenswert: Weder der deutsche Nationalismus noch der deutsch-französische Krieg von 1870/71 haben an der Hochschätzung der französischen Sprache im Bildungskanon etwas geändert.

Die ungebrochene Hochschätzung von Latein im Jahr 1882 ist insofern bemerkenswert, als das Krefelder Gymnasium mittlerweile zum „Realgymnasium“ geworden war, also zu einer Schule, die sich besonders modernen Sprachen und Naturwissenschaften widmete. Das traf fürs „Moltke“ auch zu: Das Fach „Geschichte und Geographie“ war mit 30 Stunden vertreten, Physik mit zwölf, Chemie mit sechs, „Naturbeschreibung“ mit zwölf Stunden. Die Realien spielten also im Lande des epochalen Naturforschers Alexander von Humboldt sehr wohl eine bedeutende Rolle – Latein aber blieb das stärkste Fach.

Das blieb auch in der ersten Hälfte des 20, Jahrhunderts so. Im Jahr 1926 war Latein am Moltke-Gymnasium, das 1915 seinen prachtvollen Schulbau am Moltkeplatz bezogen hatte, mit 36 Stunden stärkstes Fach – diesmal aber nur knapp vor Mathematik mit 34 und Deutsch mit 32 Stunden. Wichtig auch: Erstmals lag Englisch gleichauf mit Französisch. Die Schüler konnten wählen, ob sie Englisch oder Französisch mit 30 oder 20 Wochenstunden lernen wollten. Die neue Wichtigkeit des Englischen ist Reflex auf die neue englischsprachige Weltmacht-Achse aus USA und Großbritannien. Frankreich hingegen hatte in Europa und der Welt politisch und kulturell an Bedeutung verloren. Neu war 1926 auch der Geist des Abiturs: Es ging nun erklärtermaßen nicht um Stofffülle eines Bildungskanons, sondern um Studierfähigkeit. Die Schule sollte vor allem methodische Kompetenz vermitteln. Dieser Gedanke ist prägend bis heute, auch deshalb, weil die Fülle des hinzugewonnenen Wissens der Menschheit schulisch nicht mal ansatzweise zu vermitteln ist. Wissen, wie man Wissen erwirbt, wurde so immer wichtiger.

Erst 1949 war die Dominanz von Latein gebrochen: In der Stundentafel dieses Jahres war Englisch mit 39 Wochenstunden stärkstes Fach, gefolgt von Deutsch (38) und Latein (29). Dennoch: Wer wollte, konnte für sein Kind weiterhin einen Lateinschwerpunkt wählen. Es gab die Möglichkeit, „Lateinklassen“ mit 42 Stunden Latein und 28 Stunden Englisch zu starten – so begann die Ära der „Latein-“ und „Englisch-Sexten“ am Moltke.

Französisch war nun mit 24 Stunden abgeschlagen, sogar „Leibesübungen“ waren mit 27 Stunden wichtiger. Mathematik wurde mit 31 Stunden ungebrochen hochgeschätzt. Hingegen blieben Physik und Chemie mit elf und 14 Stunden eher schwach besetzt.

Diese Linie sollte sich rächen. Bei der Stundentafel des „Moltke“ von 1961 fielen Chemie und Physik mit zwei und sechs Stunden in der gymnasialen Bildung in die Bedeutungslosigkeit. Stärkstes Fach war nun Deutsch (37 Stunden), gefolgt von Englisch oder Latein mit 35 Stunden und Mathematik mit 32 Stunden.

Die reformierte Oberstufe der 70er Jahre brachte ein neues Phänomen mit sich: Die alten „Hauptfächer“ wurden geschwächt, weil sie über die Differenzierung in Leistungs- und Grundkurse je nach Kurswahl eines Schülers marginalisiert werden konnten, sogar die über viele Jahrzehnte hochgeschätzte Mathematik. Das Wort vom „Puddingabitur“ machte die Runde.

Die Kritik setzte sich durch, Zug um Zug wurden die klassischen Hauptfächer wieder gestärkt. Auch die naturwissenschaftlichen Fächer: Die MINT-Offensive (MINT = Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) der vergangenen Jahre versucht, Schüler neu für dieses Feld zu begeistern.

Und heute? Die Fächerwelt hat sich zu Themenfeldern geweitet, die Schüler je nach Neigung beackern können. Latein wird immer noch gelehrt, aber neben Englisch, Französisch, Spanisch, Niederländisch und Chinesisch. Der MINT-Bereich hat ein eigenes Profil; schon in der Unterstufe können Schüler einen MINT-Schwerpunkt wählen. Musik und Kunst können in Orchesterarbeit oder Kunstprojekten vertieft werden. Die relativ kleine Lernwelt des Jahres 1819 hat sich in ganze Lernwelten verwandelt. Die Welt ist eben komplizierter geworden. Und damit auch das Lernen am Gymnasium am Moltkeplatz.

Die Angaben zu den Stundentafeln stammen aus: „Gymnasium am Moltkeplatz zu Krefeld 1819 - 1969. Eine Festschrift zum 150-jährigen Bestehen“, hrsg von Alfred Kreuels.

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