Krefeld Revolutionsoper um kaputte Seelen

Krefeld · Mit großem Jubel feierte das Publikum den Spielzeitbeginn. Tschaikowskys selten aufgeführte Oper "Mazeppa" beeindruckt durch hochkarätige Darsteller, Niederrheinische Sinfoniker in Hochform und eine kluge Regie, die den düsteren Stoff spannend wie einen Krimi macht.

 Das ist das Ende: Maria (Izabela Matula) hat den Verstand verloren: Ihr Jugendfreund Andrej (Carsten Süss) ist erschossen worden.

Das ist das Ende: Maria (Izabela Matula) hat den Verstand verloren: Ihr Jugendfreund Andrej (Carsten Süss) ist erschossen worden.

Foto: Matthias Stutte

Es gibt keinen strahlenden Helden. Wenn sich der letzte Vorhang schließt, sind alle tot, wahnsinnig, gebrochen — und die Bühne ist ein Trümmerhaufen. Die Revolution hat nicht nur ihre Kinder gefressen, sondern auch alle anderen. Die Musik verebbt ins Nirwana der Melancholie.

Mihkel Kütson hätte den Rosenkavalier oder einen leidenschaftlichen Italiener für sein Operndebüt als Generalmusikdirektor wählen können. Stattdessen setzt er auf die düsteren Farben einer fast unbekannten Tschaikowsky-Oper: mehr als drei Stunden Liebe, Verrat, Vaterland in russischer Sprache — und jede Menge Blutvergießen. Kein leichter Einstieg. "Tschaikowsky ist immer gut", hat Kütson gesagt. Das Premierenpublikum gab ihm Recht: Mit "Mazeppa" nahm die Theaterspielzeit einen gefeierten Anfang.

Schon mit der gewaltigen Ouvertüre macht der GMD klar, dass hier jeder Farbton russischer Seele angemischt wird: Mit sinfonischem Tosen, das sich ganz selbstverständlich mit zarten Melodie-Geweben wechselt, geben die Niederrheinischen Sinfoniker Vollgas. Beeindruckend fundamentieren sie jede Stimmung der Opernfiguren.

Die Streicher vibrieren wie von Rachegelüsten blankgescheuerte Nerven; Bleche und Schlagwerk grollen vor Zorn; die Flöten steigern sich in die Höhen der Verzweiflung, und mit der Harfe klingt die Zärtlichkeit unmöglicher Liebe nach. Die zentrale Schlacht im zweiten Akt braucht keine Bühnenbilder — sie tobt allein im Orchestergraben.

Tschaikowsky hat seine Oper 1884 nach einem Poem von Puschkin geschrieben. Regisseurin Helen Malkowsky belässt die Geschichte um den Kosakenhauptmann Mazeppa, der gegen den Zar rebellieren will, nicht im 19. Jahrhundert. Sie steckt Mazeppas Feind, seinen ehemaligen Freund Kotschubej schon bei der Ouvertüre hinter Gitter. In der Gefängniszelle wird der erste Akt zur Rückblende: Kotschubej wollte sich an seinem Freund Mazeppa rächen, weil der seine blutjunge Tochter liebt. Er verrät Mazeppa und landet als Verräter selbst im Gefängnis.

Alter Mann liebt junge Frau — das taugt nicht als No-Go fürs 21. Jahrhundert. Der politische Stoff zündet noch immer. Wie nebenbei wechseln deshalb die Figuren auf der Bühne ihre Kleider (Kostüme: Alexandra Tivig): Die Unabhängigkeitsbestrebungen, die das Orange der Revolution von 2004 auf der Bühne mit Bändern, Fähnchen und Girlanden bereits ankündigte, sind im Heute angekommen. Kathrin-Susann Broses Bühnenbild spielt mit dem Motiv des Gefangenseins: Die Gitterstäbe des Kerkers finden sich auch im Salon wieder, Mauern verschieben sich, um den Figuren den Weg in vorgegebene Richtungen zu weisen.

Konvention, System und eigene Gefühle kerkern sie ein. Malkowsky zeigt den Polit-Krimi unter der psychologischen Lupe: Die Figuren gehen in ihrer ganzen Tragik ans Herz. Es gibt keinen Schurken, der sein Schicksal verdient hätte. In der Hinrichtungsszene löst der Chor mit mystischen Gesängen Gänsehaut aus.

Große Gefühle und tiefe Abgründe verlangt die Regie vom Ensemble. Und das zeigt große Klasse. Johannes Schwärsky ist ein stattlicher Mazeppa mit warmem, starkem Bariton. Seine Liebeserklärungen an Maria gehören zu den zauberhaften Momenten des Abends. Izabela Matula gibt ein brillantes Debüt. Ihr Mezzosopran hat Körper und Dramatik. Höhepunkte sind die Szene mit Satik Tumyan (Mutter), deren Stimme im tiefsten Kummer bricht, und das Ende. Vom Wahnsinn gezeichnet hält Maria den sterbenden Jugendfreund Andrej (Carsten Süss) im Arm und singt ein Wiegenlied.

Wenn sie ihm sanft die Augen schließt, schluckt mancher im Publikum. Süss gibt den hoffnungslos Liebenden mit Rückgrat. Auch Matthias Wippich, Kairschan Scholdybajew und Jerzy Gurzynski sind stimmlich und darstellerisch präsent. Hayk Dèinyan ist ein stolzer Kotschubej, der seinen Bass im Zorn mächtig lodern lässt und unter der Folter zerbricht.

Fazit Abend der Bestleistungen, der vorab eine Einführung verdient. lllll

(RP/rl)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort