Holocaust-Überlebender berichtet an der Hochschule Niederrhein „Das Gehirn kennt keine Vorurteile“

Krefeld · Er war ein Kind, als die Nazis an die Macht kamen, Jugendlicher, als sie sein Heimatland überfielen. Er überlebte den Holocaust, wurde Arzt. Nun hielt Leon Weintraub einen Vortrag an der Hochschule. Wie der 97-Jährige das Publikum zum Nachdenken brachte.

  Der Holocaust-Überlebende Leon Weintraub (97) sprach in seinem Vortrag an der Hochschule über sein Schicksal und appellierte für das Menschsein.

Der Holocaust-Überlebende Leon Weintraub (97) sprach in seinem Vortrag an der Hochschule über sein Schicksal und appellierte für das Menschsein.

Foto: Ja/Knappe, Joerg (jkn)

Leon Weintraub fasziniert seine Zuhörer im Audimax am Campus der Hochschule Niederrhein. Es sind nicht nur Studierende, sondern auch viele „ältere Semester“, die gebannt und schweigend dem Vortrag des 97-jährigen Arztes folgen. Weintraub, vor wenigen Tagen beim deutschen Ärztetag in Essen mit der Paracelsus-Medaille ausgezeichnet, berichtet von seinem Leben, der Tragik, die er erlitten hat, und seiner Mission, wonach das, was im Dritten Reich geschehen ist, nie wieder geschehen und nie in Vergessenheit geraten darf.

„Ich bin in einer jüdischen Familie geboren“, sagt Weintraub, der am 1. Januar 1926 als Sohn eines Altkleidersammlers und einer Wäschereibetreiberin in Lodz/Polen zur Welt kam. „Ich habe keinen Glauben“, erklärt er im Verlauf seines Vortrags, „hätte ich einen Glauben gehabt, hätte ich ihn in Auschwitz gelassen.“ Weintraub bezeichnet sich als Menschen, als Humanisten, als jemanden, der mit sich selbst im Reinen ist, der seinen Frieden gefunden hat und der hofft, dass die Spirale des Bösen und des gegenseitigen Vernichtens endlich zerbrochen wird. Auf Einladung des Vereins „Zweitzeugen“ und insbesondere von Matthias Haken vom Katholischen Hochschulzentrum Lakum hat Weintraub den Weg an den Niederrhein gefunden. Er schildert ausführlich und nachdenklich machend sein Schicksal.

1939 wurde nach dem Einmarsch der Wehrmacht die Familie Weintraub ins Ghetto Litzmannstadt gebracht. Im August 1944 folgte die Deportation ins KZ Auschwitz-Birkenau, er wurde dort von der Mutter getrennt, sah sie zum letzten Mal, als sie weggebracht wurde. Er entging der Vergasung durch den unbemerkten Anschluss an einen Gefangentransport und gelangte ins KZ Groß-Rosen. Es folgten Verlegungen ins KZ Flossenbürg und später ins KZ Natzweiler-Struthof/Kommando Offenburg.

Nach einem Monat gelang Weintraub die Flucht vom Transport in Richtung Bodensee. Nach einigen Wochen Behandlung im Lazarett Donaueschingen kam er nach Konstanz am Bodensee. Durch Zufall erfuhr Weintraub, dass drei seiner Schwestern das KZ Bergen-Belsen überlebt hatten, die er schließlich auch dort fand. Nach dem Krieg studierte er in Göttingen Medizin und promovierte 1966 in Warschau. 1969, als er seine Anstellung als Oberarzt verloren hatte, wanderte Weintraub nach Schweden aus, wo er bis heute mit seiner zweiten Frau lebt.

Erst nach dem Tod der ersten Ehefrau hat Weintraub begonnen, Vorträge über die Vergangenheit zu halten. „Ich bin es meinen ermordeten Familienmitgliedern schuldig, dass unser Leben und Sterben nicht in Vergessenheit gerät“, sagt er. Auch wolle er all jenen entgegentreten, die immer noch den Holocaust und die Gräueltraten des Naziregimes leugnen. Schließlich bereitet ihm das neue Gespenst des Rechtsradikalismus Sorge. Er mahnt eindrucksvoll: „Mit den neuen Nazis geht es recht schnell in die Gaskammern.“

Matthias Haken, der Weintraub vor einigen Jahren bei einem Besuch in Auschwitz zufällig kennengelernt hatte, will gerne als „Zweitzeuge“ transportieren, was der Zeitzeuge Weintraub erlebt hat. „Er fordert uns auf, immer wieder unser eigenes Verhalten zu überdenken“, sagt Haken über seinen älteren Freund. Nach der Begegnung mit ihm seien die Menschen andere, engagierten sich in ihrem Tun, Rassismus und Antisemitismus, Menschenfeindlichkeit und Herrschaftsdenken zu überwinden.

Weintraub lebt es ihnen vor – als Mensch. „Ich bin, der ich bin.“ Er kann den Nationalsozialisten nicht verzeihen, „weil sie meine Mutter ermordet haben.“ Aber es gebe keine „vererbbare Schuld“. Schuldig mache sich nur der, der nichts dagegen tue, dass sich derartige Gräuel wiederholen. Es gebe nur einen Menschen, die Rasse des homo sapiens.

„Das Gewebe unter der Haut ist bei allen Menschen gleich“, sagt der Mediziner, der als Gynäkologe und Geburtshelfer Tausende von Jungen und Mädchen ins Leben gebracht hat. „Das Gehirn kennt keine Ausgrenzungen oder Vorurteile.“ Es sind die Menschen selbst, die aus Gier und Neid das Menschsein vergessen. Es liege an jedem Einzelnen selbst, dagegen vorzugehen und in Freiheit das Schicksal seiner Familie und seines Landes zu beeinflussen und zu gestalten.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort