Krefeld Misstraut Brecht! – ein Appell
Krefeld · In Krefeld wird Brechts Dreigroschenoper aufgeführt. Immer eine Gelegenheit, „den armen B.B.“, wie er sich in seiner „Hauspostille“ nannte, zu feiern. Wirklich? Wir streuen eine kräftige Prise Salz in die Suppe.
Der Schreiber dieser Zeilen verdankt Bertolt Brecht einen großen Moment im Deutschunterricht. Mittelstufe, Thema „Die Maßnahme“, das vielleicht berüchtigste der Lehrstücke von Brecht. Agitatoren töten einen Kameraden, weil er immer wieder Mitleid zeigt und so die Agitation gefährdet. Er will sogar selbst getötet werden. In unserer Klasse regte sich plötzlich massive Kritik: Das ganze Konstrukt sei eine perfide Legitimation für politische Morde im Namen einer vermeintlich größeren Sache. Es war, als sei ein Vorhang gefallen: das Stück – enttarnt. Literatur war für Momente kein toter Frosch vom Planeten Schule, den man sezieren musste, sondern lebendige Zumutung, pralles Denken, Fühlen, Urteilen – also das, was Literatur wirklich ist. Und Brecht? Stand als listiger Vordenker politischen Terrors im Klassenzimmer. Hässlich und nackt.
Vor Brecht-Verehrung muss gewarnt werden. Der unvergessene Marcel Reich-Ranicki schrieb in FAZ zum 50. Todestag von Brecht im Jahr 2006, Brecht sei wegen seiner Lyrik ein Klassiker. Klammer auf: also nicht wegen seiner Theaterstücke. Reich-Ranicki titelte damals: „Kluger Kopf mit Scheuklappen“ und zitierte genüsslich Dürrenmatt: „Brecht denkt unerbittlich, weil er an vieles unerbittlich nicht denkt.“
Kann man wohl sagen. Was immer groß an Brecht war, er war auf jeden Fall ein groß Irrender. Er hat weder die Demokratie richtig verstanden noch den Sozialismus, den er ja in stalinistischer Prägung vor Augen hatte. Und vom Kapitalismus hatte er nur Zerrbilder im Kopf: Seine These, wonach der Faschismus Hitlerscher Prägung die konsequente Spätform des Kapitalismus sei, ist historisch widerlegt. Es waren demokratische, marktwirtschaftlich organisierte Staaten, die dem Faschismus brauner wie roter Lackierung widerstanden. Dass Marktwirtschaft, rechtlich und menschenrechtlich gebändigt, eine unabdingbare Seite der Freiheit ist, dass sie etwas mit Gewaltenteilung zu tun hat, weil bessere Ideen die Macht der alten beschnitten, dass das Ende marktwirtschaftlicher Freiheit immer der Anfang vom Ende allgemeiner politischer Freiheit ist – Brecht war blind für solche Überlegungen. Ihm wurde die Gleichung Kapitalismus = Faschismus = Gier + Gewalt + Totschlag zur Weltformel, aus der heraus Sätze wie „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ purzelten. Brecht war eben auch ein großer Simplifizierer, der sich von der Wirklichkeit nicht weiter stören ließ. Siehe Dürrenmatt.
Tiefpunkt in Brechts politischem Leben war dessen Reaktion auf den 17. Juni 1953, sein Kotau vor dem Stalinismus, sein historischer Moment der Schande. Bekanntlich hat er, nachdem demonstrierende Arbeiter in Berlin zusammengeschossen worden waren, einen Brief an Ulbricht geschrieben, in dem er seine „Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ ausdrückte und vorsichtig kritisch die Erwartung einer „Aussprache mit den Massen über das Tempo des sozialistischen Aufbaus“ formulierte.
Die SED veröffentlichte danach nur die Ergebenheitsadresse – zum Entsetzen von Brecht, der, so kann man lesen, danach tagelang mit dem kompletten Wortlaut seines Schreibens herumlief, um sich zu rechtfertigen. Nur: Hat ihn seine laue Kritik am Regime je gerechtfertigt?
Vor dem Rest der Welt hatte die DDR-Führung die Maske fallen lassen; sie hat die „Maßnahme“ ergriffen, die Brecht in seinem Lehrstück so listig durchdekliniert hat. Es ist fast gespenstisch: Die „Maßnahme“ wurde 1930 uraufgeführt; sie kann als Prophetie auf das gelesen werden, was die DDR 1953 exekutierte. Mit Brechts Stück in der Hand hätte man den 17. Juni rechtfertigen können. Schönheitsfehler: Die Erschossenen haben nicht um ihre Erschießung gebeten. Denn schon 1953, vier Jahre nach ihrer Gründung, ging es in der DDR um nichts anderes als um den Erhalt der Macht mit allen Mitteln. Brecht hat das nicht grundsätzlich gestört: Er blieb der DDR treu bis zum Tod, sie hat ihm ja auch ein Theater geschenkt. Was wollte er mehr? Brecht war eben ein besessener Theatermensch, ein Poet, ein Narzisst – ein Menschenfreund war er nicht.
Jetzt also: Wiedersehen mit Brechts Dreigroschenoper in Krefeld. Leicht wird das nicht, außer man macht es sich leicht mit Brecht. Das wäre nun auch Verrat an Brecht. Misstrauen wir ihm tief. Nur so werden wir ihm gerecht.