Kolumne Kr Wie Krefeld Lessing und wir

Krefeld · Lassen wir es zum Äußersten kommen und reden über Lessing.

Noch mehr über Fußball zu reden, ist fast unangemessen: Die Begeisterung über den KFC Uerdingen ist sich selbst genug; Reden ist im Moment Silber - Fühlen Gold. Nicht so bei Lessing: Zweimal taucht er in Krefeld auf. Einmal wird demnächst am Theater "Minna von Barnhelm" aufgeführt; zum anderen fiel der Name Lessing beim offiziellen Fastenbrechen der Türkischen Union. Hans-Joachim Hofer hat als Vorsitzender des Katholikenrates Lessings Ringparabel erzählt. Nimmt man es nicht als gebildete Girlande, bleibt die Frage: Ist dieser Lessing immer noch eine Zumutung wie zu Lebzeiten, als er sich intellektuelle Gefechte mit Pastor Goeze lieferte?

Wir haben uns an Lessings Zumutungen gewöhnt. Er hat Religion, Offenbarung, Bibel und Koran unters Skalpell der Vernunft gelegt. Die ganze Art, wie er jeden Anspruch auf Geltung hinterfragte, provozierte damals zeitgenössische Theologen. Und heute?

Was in Lessing begann, zeigt Wirkung. Die Kirchen sind nicht mehr geltungstrunken; Pfarrer sind eher verzagt und überrascht, wenn man sich für sie interessiert; da ist kein Machtanspruch mehr, manchmal nicht mal der Wille, weiterhin klug und wach über die Kirche und ihre Botschaft zu reden.

200 Jahre Toleranzdenken steckt uns in den Knochen, und das ist gut so. Toleranz zwingt Gläubige (politische wie religiöse) zur Bescheidenheit: Sie sollen zwar nicht die Wahrheit ihrer Überzeugung in Frage stellen, aber deren Reichweite, und die endet außerhalb des eigenen Herzens. Toleranz erzwingt eine Ethik der Mitteilung: Glaube, was du willst, aber zwinge deinen Glauben niemandem auf.

Das haben - folgt man einem Abend wie dem offiziellen Fastenbrechen in Krefeld - auch Muslime in Deutschland gelernt. Wenn Mesut Akdeniz als Vorsitzender der Türkischen Union Respekt für Religionen ebenso anmahnt wie Respekt der Religionen untereinander oder im Miteinander mit "spirituell Gleichgültigen", dann ist das aus dem Geist der Toleranz gesagt. Auch Muslime haben offenbar gelernt, mit Lessings Zumutungen zu leben. Gute Nachricht. Zu den beeindruckendsten Sätzen von Akdeniz gehörte der Ruf, Extremisten und Rechtspopulisten müssten spüren, dass die Mehrheit keine schweigende Masse sei. Diese Mehrheit ist, wenn es gut läuft, eine Mehrheit mit Lessing im Kopf.

Und im Herzen. In Minna von Barnhelm hat Lessing eine Frauenfigur geschaffen, die lebensfeindliche Ehrbegriffe sanft überwindet. "O, über die wilden, unbiegsamen Männer, die nur immer ihr stieres Auge auf das Gespenst der Ehre heften, für alles andere Gefühl sich verhärten!", heißt es in dem Stück. Heute müsste man das Zitat gendergerecht auf Männer und Frauen sowie politisch ausweiten. "Unbiegsamkeit" präsentiert sich heute als Geisteshaltung, die Ressentiments nährt, aggressiv auftrumpft und mehr gegen als für etwas ist. Wer ist heute nicht alles gegen "Europa". Wie aber Europa ohne "Europa" aussieht, kommt in diesem Anti-Rausch nicht vor. Hauptsache drauf. Solche Hooligans sitzen heute auch in Parlamenten und Regierungszentralen.

Lessings Minna steht für biegsame Menschen. Gemeint sind nicht Opportunisten, sondern Menschen, die sich dem Windhauch der Realität aussetzen. Sich bewegen lassen, im Kopf und im Herzen. Weich bleiben für Abdrücke aus Not und Glück anderer in der eigenen Seele. Minnas Humanität färbt die Welt nicht rosarot, sie sieht die echten Farben der Welt. Und die sind manchmal dunkler, als man erträgt; manchmal heller, als befürchtet, und immer bunter, als erwartet. Diesen Lessing müssen wir auch heute noch jeden Tag lesen. Und verteidigen. vo

(RP)
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