Krefeld Lenz – wahnsinnig gut

Krefeld · Das erste Schauspiel hatte Premiere im Glasfoyer: Mit Büchners "Lenz" brachte Frank Hänig großes Theater in kleiner Form. Drei grandiose Schauspieler machten das Kammerspiel zum eindringlichen Erlebnis.

Mit blutenden Händen steht Lenz kurz vor dem Ende da. Er hat sie sich aufgerissen an den metallenen Sprungfedern der Zelle, in die man ihn gesperrt hat. Weggeschlossen, weil er zum Störfaktor wurde – ein Unangepasster, der an der Welt, in die er sich nicht fügen konnte, irre wird. Ein Psychopath? Oder steckt mehr in ihm? Wie er die Arme hebt und den Kopf neigt, als seine Wunden verbunden werden, erinnert er für einen Moment an den Gekreuzigten.

Die Szene dauert nur einen Wimpernschlag und ist das stärkste Bild, das Frank Hänig in seiner Inszenierung von Georg Büchners "Lenz" zeigt. Er braucht nicht viel Symbolik, denn er hat ein Stück, das fesselt, und starke Schauspieler. Felix Banholzer als Lenz, Daniel Minetti als Goethe und Felicitas Breest als Pfarrerstochter Friederike Brion füllen das Glasfoyer, das bei der Premiere erstmals zur Schauspielbühne wurde, mit solcher Präsenz, dass dem Publikum manchmal der Atem stockt.

Jeder Schweißtropfen ist sichtbar

Dazu hat Hänig die Bühne, jenen rostigen Käfig, bis fast in die erste Zuschauerreihe gebaut. Und die Darsteller spielen das Publikum an. Jeder Schweißtropfen, der auf Banholzers Stirn glitzert, ist sichtbar. Jede kleinste Regung wird bemerkt. Die Überspannung der Figur ist fast greifbar.

Die 1836 geschriebene Erzählung Büchners basiert auf einem Bericht des Pfarrers Oberlin, bei dem der Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz im Winter 1778 drei Wochen in einem kleinen Ort in den Vogesen verbracht hatte. In dieser Zeit verschlimmerte sich der seelische Zustand des Dichters rapide, er versank in Depressionen und Wahnvorstellungen, versuchte mehrfach, sich zu verletzten, sich zu töten. Schließlich musste er nach Hause zu seinem Vater geschickt werden. Büchner, selbst Arzt, hat die Irrungen des Schizophrenen plastisch dargestellt.

Ausstattungsleiter Hänig hat die Erzählung als Bühnenfassung eingerichtet, hat Goethe, den mit Lenz fast Gleichaltrigen, zum gereiften Gegenpol dazugeschrieben – und zwischen beide die Pfarrerstochter Friederike gestellt, die – historisch verbrieft – beide Männer geliebt haben. Hänig hat dabei exakt die Klangfarben in Büchners fein instrumentierter Sprache getroffen.

Lenz ist der Dichter mit dem unerschütterlichen Glauben an die Wahrhaftigkeit der Kunst. Er ist feuriger Verfechter seiner Ideale. Aber er ist auch der Verlierer, der Leer-Geschriebene – hier ein Patient, der im Licht einer OP-Lampe die Marter seiner seelischen Nöte durchleidet. Banholzer schreit und verstummt, er rast wie ein Tier im Käfig, steht Kopf, springt die Zellenwände hinauf in dem Gefühl, dass das Schicksal ihn auf eine Nadelspitze stellt. Er wird ganz ruhig, wenn er Friederike mit vorsichtiger Zärtlichkeit umwirbt.

Minetti wechselt im Handumdrehen die Rollen vom beschwichtigenden Arzt Lenzens zum Dichterfürsten Goethe, der Salz in die Wunden streut. Ein verzogener Mundwinkel reicht, um die tiefe Verachtung für den "Affen Goethes", der sich in "imaginären Schmerzen" wollüstig suhle, zu spiegeln. Cool zieht er am Zigarillo, während Lenz fast krepiert. Eine Autorität, an der Leidenschaft abprallt.

Eine wunderbare Idee ist es, Breest als Friederike, die zwischen beiden Männern bestehen muss, sechs Lieder aus Schuberts Winterreise singen zu lassen. Mit kräftiger, geschulter Stimme, die in leiseren Passagen eine anrührende Traurigkeit begleitet, formuliert sie, was für Lenz geschrieben sein könnte. Mit den "Gefrorenen Tränen" und "Drei Sonnen sah ich am Himmel stehen" trifft sie ins Mark. lllll

Fazit Großes Theater auf kleiner Bühne

(RP)
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