Lebenshilfe Krefeld Autismus – der Weg in ein Leben ohne Angst

Krefeld · Peter Schreinemacher von der Lebenshilfe Krefeld kennt den 31-jährigen Kenny van Baal und weiß: „Er braucht eine klare Struktur, einen Plan und ein Ziel – sonst kann es passieren, dass er sich verliert.“

Mit dem Roller die Stadt erobern: Kenny van Baal bei der Lebenshilfe Krefeld im Hof an der Alten Landstraße.

Mit dem Roller die Stadt erobern: Kenny van Baal bei der Lebenshilfe Krefeld im Hof an der Alten Landstraße.

Foto: Lebenshilfe

Jetzt ist es gelungen: Kenny van Baal hat es bis zur Kirche geschafft – zu Fuß. Und das ist für einen Menschen mit großer Angst vor Enge, Kopfsteinpflaster, Schienen und lauten Fahrzeugen eine großartige Leistung. „Er war richtig stolz und hat sich gefreut“, sagt Friederike Schreinemacher. Sie leitet das Wohnhaus Alte Landstraße der Lebenshilfe Krefeld am Rande von Hüls. Das im Stil eines Vierkanthofes angelegte Haus wurde 2015 bezogen. Hier leben ausschließlich Menschen mit einer Autismusspektrumstörung (ASS). Sie nehmen ihre Umwelt anders wahr und sind häufig von der Fülle der Eindrücke überwältigt.

Mitarbeiter Peter Schreinemacher kennt den 31-jährigen Kenny van Baal und dessen Ängste seit dem Einzug in das Wohnhaus und weiß daher um die besondere Bedeutung einer konkreten Aufgabe: „Kenny van Baal braucht eine klare Struktur, einen Plan und ein Ziel – sonst kann es passieren, dass er sich verliert.“ Kenny van Baal orientiert sich an einem Tagesplan, der ihm die Vorhersehbarkeit über den Tag bietet. Der Plan besteht aus von links nach rechts angeordneten Bildkarten mit Fotos und Symbolen, die die einzelnen Tätigkeiten repräsentieren. „Wir arbeiten mit Elementen der TEACCH-Methode. Sie hilft dabei, den Alltag zu strukturieren und die Reizüberflutung gering zu halten“, sagt Friederike Schreinemacher.

Nach einem Ankunftsritual, das aus Händewaschen, Kaffeemachen und einem kleinen Snack besteht, enthält Kenny van Baals Plan auch Möglichkeiten, seine Freizeit zu gestalten. Häufig entscheidet er sich fürs Schaukeln, Kettcar-Fahren oder auch für Sortier- und Schraub-Aufgaben im Tagesstrukturbereich des Wohnhauses. Hauswirtschaftliche Aufgaben übernimmt er ziemlich gerne. Sein Verantwortungsbereich innerhalb der Gruppe: Sauberkeit des Essbereichs nach dem Abendessen inklusive Spülmaschine aus- und einräumen.

Unterwegs in der Seidenstadt: Kenny van Baal hat es bis zu St. Cyriacus in Hüls geschafft.

Unterwegs in der Seidenstadt: Kenny van Baal hat es bis zu St. Cyriacus in Hüls geschafft.

Foto: Lebenshilfe

Eine Tagesstruktur mit festen und variablen Elementen hat das Team der Gruppe Nord entsprechend passgenau für ihn entwickelt. Den übergeordneten Rahmen geben dem jungen Mann besondere Anlässe und Feste wie Urlaube, Geburtstage, Weihnachten, Karneval und die Jahreszeiten. Durch den steten Vertrauensaufbau zu den langjährigen Mitarbeitern gelingt es ihm Stück für Stück, verschiedene Herausforderungen zu meistern. „Das Bindungsorientierte steht im Vordergrund“, sagt Friederike Schreinemacher. Die Bewohner fassen Vertrauen zu den Mitarbeitenden und diese wiederum nutzen ihr Fachwissen, um sich immer wieder die Frage zu stellen ‚Wie kann ich ihn begleiten?‘

Auf diese Weise hat Kenny van Baal Schritt für Schritt sein Ziel erreicht – über Monate hinweg. Zuerst ging es vom Wohnhaus bis zur Tankstelle mit den blauen Schildern. Seine Aufgabe während der Corona-Krise war es nämlich, gemeinsam mit einem Mitbewohner Altpapier und Altglas zu den nahegelegenen Containern zu bringen. Dann wurden die Container in Richtung Stadt versetzt und nun galt es, die Schienen zu überqueren, um zur Tankstelle mit den rotgrünen Schildern zu gelangen. Das ging auch ziemlich gut. Zumal die Chips und Softgetränke dort günstiger sind als bei der nähergelegenen Tankstelle.

Einmal allerdings brauste ein großer Lkw an ihnen vorbei. Da kehrte Kenny van Baal stracks um. Es war ihm zu viel. „Wenn die Anspannung zu hoch ist, müssen wir die Arbeit mit den Klienten sofort anders gestalten, damit sie mit einem guten Gefühl aus der Situation gehen“, sagt Peter Schreinemacher. Seine Frau ergänzt: „Das ist hochprofessionelles Arbeiten, denn wir müssen immer wissen: Wo ist es zu viel? Wo ist es zu wenig?“

Mitte März jedenfalls war es genau richtig: Kenny van Baal ist mit einer Mitarbeiterin der Wohngruppe tatsächlich bis zu Kirche gelangt und hat sich dort von ihr stolz fotografieren lassen. Das Ziel, immer weiter Richtung Ortskern zu gelangen, entstand eigentlich während der Corona-Einschränkungen. „Wir mussten eine tagesfüllende Struktur für unsere Bewohner entwickeln, besonders für die Zeit, die sie sonst üblicherweise im HPZ verbringen“, erklärt Schreinemacher, der ein- bis zweimal in der Woche die Wege mit Kenny van Baal gegangen ist. Und auch er ist sehr froh über dessen Erfolg: „Es macht einfach Spaß, wenn man sieht, was die Arbeit bewirkt.“

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