Gänsehautstück des Krefelder Theaters Drama über die Spätfolgen von Folter

Krefeld · Diesen Abend muss man aushalten: „Der Tod und das Mädchen“ hat durch die aktuellen Kriege erschreckende Aktualität. Eine dichte Inszenierung und großartige Schauspieler raubten dem Premierenpublikum den Atem.

 Wechselbad der Gefühle für den Mann (Ronny Tomiska): Kann er seiner Frau  (Nele Jung) vertrauen?

Wechselbad der Gefühle für den Mann (Ronny Tomiska): Kann er seiner Frau  (Nele Jung) vertrauen?

Foto: Matthias Stutte

Bilder von den Massengräbern in Butscha, von den Massakern in Mariupol und auch von den Ruinen in Aleppo, noch Jahre nach den Angriffen, lassen sich nicht verdrängen. Sie haben sich eingebrannt und blenden sich bei diesem Theaterabend automatisch auf. Unvorstellbar, welche Verwüstung die Gräuel in den Seelen der Menschen anrichten, die sie am eigenen Leib erleben. Wird man das jemals wieder los? Kann der Mensch erlittene Unmenschlichkeit je überwinden? Gar vergeben?

Diesen Fragen spürt  der Exil-Chilene Ariel Dorfman nach in seinem Stück „Der Tod und das Mädchen“. Der Syrer Rafat Alzakout, der inzwischen in Berlin lebt,  hat es 2019 für das Theater Krefeld Mönchengladbach inszeniert. Jetzt, nach coronabedingten Verschiebungen, war Krefeld-Premiere in der Fabrik Heeder. Die Gräuel der Gegenwart schreiben ihre Subtexte in das dichte Kammerspiel. Das Publikum verharrt einige lange Momente in Schweigen, bevor der Applaus einsetzt. An diesem Abend wird man noch lange kauen.

Regisseur Alzakout nennt das Stück treffend eine „raffiniert kalkulierte Mischung aus Politthriller, Psychodrama und Strindbergiade“. An drei Figuren wird verhandelt, was Menschen Menschen antun können. Es geht um Krieg, um Folter, um Vergewaltigung. Es geht um Schuld und Eingeständnis. Es geht um Rache und Verantwortung, um den Tod und das Weiterleben. Es geht um alles.

 Mit einem symbolträchtigen roten Seil fesselt die Frau (Nele Jung) den Arzt (Adrian Linke). Ist er ihr Folterknecht? Der Theaterabend lässt viele Fragen offen.

Mit einem symbolträchtigen roten Seil fesselt die Frau (Nele Jung) den Arzt (Adrian Linke). Ist er ihr Folterknecht? Der Theaterabend lässt viele Fragen offen.

Foto: Matthias Stutte

Mit knallenden Beats, Lichteffekten und Bühnennebel geht es los: Clubatmosphäre. Ronny Tomiska heizt als Entertainer mit Mikrofon dem Publikum ein. Zwei Bildschirme werfen Nahaufnahmen der Show ins Publikum. Doch schnell ändert sich die Stimmung. Kamera und Mikros werden zu Spitzeln, fangen intimste Szenen ein und machen sie öffentlich. Die von Emilie Cognard kühl und schwarz-weiß gehaltene Bühne  legt nach und nach ihre Symbolfracht offen:  Bügel unter Plastikhüllen, mal leer, mal mit unschuldsweißen Frauenkleidern, hängen aufgereiht wie in einer chemischen Reinigung. Der Rückzugsort für das Paar (Nele Jung und Ronny Tomiska), das hier lebt, ist ein Glaskasten - Gefängnis und Präsentierteller zugleich. Ein rotes Seil hängt im Raum wie eine Blutspur. Später wird es der Strick sein, der den Arzt (Adrian Linke) fesselt.

Die Geschichte ist an der Oberfläche einfach: Der Arzt hat dem Mann bei einer Autopanne geholfen und wird aus Dankbarkeit eingeladen. Die Frau erkennt in seiner Stimme den grausamen Folterer, der sie vor 15 Jahren, als das Land noch eine Diktatur war, gequält und vergewaltigt hat, während er Schuberts Quartett „Der Tod und das Mädchen“ abspielte. Ihre Wunden sind niemals verheilt, das Geschehene hat ihr Leben vernarbt. Jetzt will sie  ihren Peiniger büßen lassen.

Nele Jung dabei zuzusehen, wie das Trauma sie überwältigt, wie sie sich hineinsteigert in den Rausch, Qual mit Qual zu vergelten, geht unter die Haut. Sie kämpft, weint und erstarrt in Härte, um sich zu rächen. Nach endlosen Jahren will die Frau sich aus ihrem Albtraum befreien, ist bereit zu töten und richtet die Waffe sogar auf ihren Mann. „Ich will, dass er gesteht“, fordert sie.

Das ist der heikle Punkt in dieser Geschichte. Ein derart erzwungenes Geständnis ist juristisch nichts wert. Und klar ist die Sache ohnehin nicht. Ob der Arzt tatsächlich der Peiniger ist, bleibt offen. Adrian Linke nährt die Zweifel. Er ist selbstgefälliger Macho, verbal brutal. Er bricht ein unter der Angst vor Schmerzen und Tod, lässt die Maske der Moral fallen, gesteht Lust, wenn er Qualen zufügt. In Großaufnahme spricht sein Gesicht Bände. Sein Geständnis ist nur noch ein Gurgeln. Aber war er der Täter?

An diesem Dilemma droht auch der Mann zu zerbrechen. Er soll für die neue demokratische Regierung Folterverbrechen aufdecken. Jetzt wird er zwischen den Fronten im eigenen Haus zerrieben. Ronny Tomiska zeigt die Tragödie des „Man in the Middle“, seinen verzweifelten Wunsch, zu glauben, zu vertrauen und den  beharrlich zubeißenden Zweifel. Es gibt keine Gewinner - das ist die einzig verlässliche Gewissheit. Mit Schubertmusik und Namen von Folteropfern endet ein wichtiger, schwererer Theaterabend. Und im wirklichen Leben? Weitere Schreckensbilder.

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