Ausstellung zum jüdischen Leben Wenn Nachbarn Nachbarn denunzieren

Krefeld · Zu den Unvorstellbarkeiten in der Zeit des Nationalsozialimus gehört auch, dass Menschen aus vertrautem Umfeld zu Verrätern wurden. Das ist ein Aspekt der Ausstellung „Jüdische Nachbarn“ in der Villa Merländer. Das Landes-Projekt richtet sich mit Workshops vor allem an Schulen.

 Jede Wand erzählt Lebensgeschichten: Sandra Franz, Leiterin der NS-Dokumentationsstelle, in der Ausstellung „Jüdische Nachbarn“, die ab heute in der Villa Merländer zu sehen ist.

Jede Wand erzählt Lebensgeschichten: Sandra Franz, Leiterin der NS-Dokumentationsstelle, in der Ausstellung „Jüdische Nachbarn“, die ab heute in der Villa Merländer zu sehen ist.

Foto: Lammertz, Thomas (lamm)

Manchmal hat das Grauen einen Namen. Das macht es noch schlimmer. Hinter den millionenfachen Deportationen und den ungezählten Schikanen und Übergriffe gegen Jüdinnen und Juden in der Zeit des Nationalsozialismus steckten nicht nur anonyme Fremde. Nicht wenige Denunziationen  kamen aus der Nachbarschaft. Was passiert, damit eine gute oder neutrale Beziehung zwischen Menschen in Hass umschlägt? Wie bitter ist es, wenn sich der Nachbar als Verräter entpuppt? Das sind Fragen, die eine Sonderausstellung in der NS-Dokumentationsstelle aufwirft: „Jüdische Nachbarn“ ist begleitend zum Gedenken an die Opfer des Holocaust ab 27. Januar in der Villa Merländer zu sehen.

Die Ausstellung richtet sich in erster Linie an Schulklassen. „Jüdische Nachbarn“ ist ein NRW-Projekt, das mit Hilfe der Ausstellung und Unterrichtsmaterialien die Vielfalt jüdischen Lebens vor der NS-Herrschaft vor allem jungen Menschen näherbringen will. „Das geschieht besonders intensiv über Lebensläufe“, sagt Sandra Franz, Leiterin der NS-Dokumentationsstelle. Die Biografien erzählen von individuellen Menschen, sie lassen in namenlosen Massen Gesichter, Hoffnungen, Träume und Identitäten sichtbar werden.

Es geht um Menschen, die im Rheinland und in Westfalen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Städten und auf dem Lande lebten. „Das Projekt „Jüdische Nachbarn“ hat sich zum Ziel gesetzt, einen Bildungsbeitrag zur Vertiefung des Wissens junger Menschen über die Vielfalt jüdischen Lebens vor der NS-Herrschaft im heutigen Nordrhein-Westfalens zu leisten“, heißt es zum Landeprojekt,das über die Bezirksregierungen ausgeliehen werden kann. Die Ausstellung entstand im Rahmen von „1700 Jahre Jüdisches Leben“ und gliedert sich in die Bereiche jüdischen Lebens auf dem Land und in der Stadt.

 Ein Schwerpunkt ist jüdisches Leben auf dem Land.

Ein Schwerpunkt ist jüdisches Leben auf dem Land.

Foto: Lammertz, Thomas (lamm)

Der erste Baustein beschäftigt sich mit den ländlichen Verhältnissen. Im Mittelpunkt steht die Familie Humberg mit Wurzeln im westlichen Münsterland und am Niederrhein. Die Ausstellung spiegelt das Leben in der Dorfgemeinschaft in Dingden (Hamminkeln). „Die Familie hatte eine Metzgerei und ein Manufakturwarengeschäft. Sie war sehr angesehen. Alle im Dorf mochten sie“, sagt Franz. Dann wurde das Leben für Rosalia und Abraham Humberg und ihre sieben Kinder zunehmend schwieriger. Sie wurden als Juden ausgegrenzt, diskriminiert, verfolgt. „In der Reichspogromnacht wurde die Familie brutalst überfallen“, sagt Sandra Franz. Und es waren nicht irgendwelche SS-Schergen. „Das waren Leute aus dem eigenen Dorf und aus dem Nachbardorf.“ 

Das Haus, in dem das alles geschah, steht noch.  „Die Eltern und vier Geschwister werden ermordet, drei konnten mit ihren Familien nach Kanada auswandern“, heißt es im Humberghaus, das inzwischen eine Gedenkstätte ist. Und: „Die Spuren dieser deutschen Familie wären durch die tragischen Ereignisse unsichtbar geworden, hätten sich nicht die Mitglieder des  Heimatvereins Dingden e.V. der Geschichte des Hauses und  seiner früheren Bewohner angenommen.“ 

 Das Humberghaus versteht sich nicht als Museum, sondern als Ort der Erinnerung, des Nachdenkens und des Lernens, „in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufscheinen“.  Da entspricht es sehr der Villa Merländer, quasi dem städtischen Pendant. Auch die Villa war ein Wohnhaus. Auch ihr Besitzer, Richard Merländer, war ein angesehener Krefelder Kaufmann, bevor der Nationalsozialismus  Macht gewann und er wegen seines Glaubens und seiner Homosexualität verfolgt wurde. „Auch Richard Merländer ist von Nachbarn denunziert worden“, berichtet Sandra Franz. Er wurde aus seinem Haus vertrieben und musste zunächst in ein sogenanntes Judenhaus, bevor die Gestapo ihn abholte. Am 25. Juli 1942 wurde er nach Theresienstadt deportiert und im September 1942 im Vernichtungslager Treblinka ermordet.

Die Ausstellung ist  mit einem Workshop verknüpft, der sich primär an die Sekundarstufe I richtet. Über die Schicksale konkreter Personen soll er  jüdische Kulturen und Traditionen vermitteln und zeigen, wie vielfältig jüdisches Leben auf dem Land war. Im zweiten Baustein geht es um jüdische Personen und Familien, die städtisch geprägt gelebt haben. Auch dazu gibt einen Workshop. „Bei uns finden die Schülerinnen und Schüler natürlich viel Material. Aber die Workshops finden nicht in der NS-Dokumentationsstelle statt, sondern in den Schulen“, betont Sandra Franz. „Aber wenn es um die Geschichte der Stadt geht, dann können wir natürlich helfen. Wir hoffen, dass bald wieder Klassen zu uns kommen können. In unserer Dauerausstellung haben sie dann die Möglichkeit, selber zu recherchieren.“

Auch die eigenen Geschichten der jungen Leute  können ein weiterführendes Thema sein. Verfolgung und Ausgrenzung  haben viele erlebt, die aus ihrer Heimat geflüchtet sind. Viele kennen die belastende Frage: Wem kann ich trauen? Und das vergiftende Misstrauen - auch gegenüber Nachbarn.

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