Benefizkonzert im Theater Krefeld Jazzmusik kündet vom Geist der Freiheit in Kriegszeiten

Krefeld · Der ukrainischstämmige Pianist Vadim Neselovskyi bewegte das Publikum beim Konzert im Theater zu Tränen. Seine beste Therapie in diesen Wochen: Bach-Musik.

Er zitierte Chopin, huldigte russischem Rock und interpretierte Bach: Jazzpianist Vadim Neselovskyi im Theater.

Er zitierte Chopin, huldigte russischem Rock und interpretierte Bach: Jazzpianist Vadim Neselovskyi im Theater.

Foto: Lammertz, Thomas (lamm)

Was leistet Jazz gerade in dieser Zeit von Krieg, Bedrohung und Hilflosigkeit? Obergbrgermeister Frank Meyer wies im Theater darauf hin, dass diese Kunstform wohl am unmittelbarsten an Freiheit appelliert. Im vollbesetzen Glasfoyer und getragen vom Jazzklub Krefeld präsentierte der ukrainischstämmige Pianist Vadim Neselovskyi im Rahmen seiner Ukraine-Benefiztournee seine „Odessa-Suite“ - eine tief persönliche musikalische Erzählung, über sich selbst, seine Geburtsstadt, über den Reichtum von Kultur und die Empfindungen der Menschen, die er dort kennt. Und über die schreckliche, alles aus den Fugen reißende Gegenwart.

Einige im Publikum hatten schon bald Tränen in den Augen, weil sie von den vielschichtigen Impressionen und Improvisationen dieser Musik, die sich in keine Stilschublade einordnen lassen will, mitgerissen wurden. Neselovskyis bewegender Einführungsvortrag hatte zuvor für passende Bilder im Kopf gesorgt: Herrlich verrückte Tanzfiguren suggerierten die Lebenslust der Menschen in dieser vibrierenden Kulturmetropole am Schwarzen Meer, die seit dem 24. Februar von Überlebensangst dominiert wird.

Zuweilen wurde der Gestus klein und zart, wenn Neselovskyis Spiel den zerbrechlichsten Empfindungen der Menschen nachspürte. Es könnte zuweilen ein Wiegenlied sein, um ein Kind in einen friedlichen Schlaf zu bringen. Wer kann jetzt schon noch friedlich schlafen in diesem Land, das gerade einmal zweieinhalb Flugstunden entfernt von uns ist?

Hart und gewalttätig gebärdete sich das Spiel im Mittelteil der Suite. Was ursprünglich dem Schicksal der jüdischen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg gewidmet war, wurde nun mit neuer, fürchterlicher Aktualität aufgeladen: Jetzt suggerierte jeder donnernde Impuls auf dem Flügel die ständigen Bomben- und Raketeneinschläge.

Nein, zur Flucht aus der Wirklichkeit taugte dieser Konzertabend wohl kaum. Aber Neselovskyi, der mit mächtigem künstlerischen Potenzial diesen ganzen Klangkosmos stemmte, spendete damit auch Trost. Der Geist der Freiheit liegt über allem. Raffiniert eingestreute Zitate aus Chopins Revolutionsetüde wollen sagen, dass in jeder Epoche ein Hunger nach Freiheit besteht. Ein rockiger, mächtig auftrumpfender Part huldigt einem berühmten russischen Rockmusiker, den Neselovskyi als „Moskauer Jim Morrison“ bezeichnete und der in den letzten Jahren ein Sprachrohr für eine ganze junge Generation in Russland geworden ist.

Es dauerte einige stille Sekunden, bevor im Glasfoyer der Applaus losbrach und es das Publikum von den Sitzen riss. Als Zugabe spielte Vadim Neselovskyi eine Bach-Sinfonia, denn Bach sei in diesen Tagen seine beste Therapie.

Und das fordernde Crescendo, mit dem er den barocken Satz auflud, appellierte einmal mehr an den freien Geist.

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