Krefelder gedenken der Pogromnacht Wenn „Nie wieder Krieg“ nicht mehr gilt

Krefeld · Beim Gedenken an die Pogromnacht spielten Putins Krieg in der Ukraine und die Weltpolitik tragende Rollen. Wie Gedenken neu definiert werden muss.

Kulturbeauftragte Gabriele König, der diesjährige Niederrheische Literaturpreisträger Christoph Peters und Literaturhausleiter Thomas Hoeps (v.r.) am Mahnmal der Alten Synagoge

Kulturbeauftragte Gabriele König, der diesjährige Niederrheische Literaturpreisträger Christoph Peters und Literaturhausleiter Thomas Hoeps (v.r.) am Mahnmal der Alten Synagoge

Foto: Fabian Kamp

Auf der Kranzschleife der Villa Merländer steht: „Es ist vorbei. Nie ist es vorbei“. Die zwei knappen Sätze bringen auf den Punkt, was am Mittwoch Abend die Menschen bewegte, die sich zum Gedenken an die Pogromnacht 1938 am Standort der Alten Synagoge an der Petersstraße versammelt hatten: In diesem Jahr hat das Gedenken eine neue Ebene - durch den Krieg mitten in Europa.

Das machten auch die Redner deutlich: Yitzchak Mendel Wagner, Rabbiner der Jüdischen Gemeinde, Oberbürgermeister Frank Meyer und Sandra Franz, Leiterin der NS-Dokumentationsstelle.

„Wir wissen heute, dass dies nur ein Prolog war für das dunkelste Kapitel unserer Geschichte“, sagte Meyer über die  Nacht vor 84 Jahren. „Die Monstrosität der deutschen Schuld war später die Wurzel für eine Gedenkkultur“, die das Vergessen erschwere und helfe, wachsam zu bleiben. Gedenken müsse für die Zukunft in Teilen neu definiert werden, weil die Zeitzeugen fehlen werden, die jungen Leuten durch ihre persönlichen Geschichten sensibilisieren. Und weil das Vertrauen in den Leitsatz „Nie wieder Krieg“ 77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Wirklichkeit nicht mehr standhalte. Die reine Lehre des Pazifismus sei ein Luxus, den wir uns nicht mehr leisten könnten, wenn Menschen wie Putin die Maßstäbe verschöben. Bedingungslose  Unterstützung, um zu helfen, den Krieg zu beenden, sei alles, was wir tun könnten. Eine weitere Herausforderung sei die Maxime „Wehret den Anfängen“, betonte Meyer mit Blick auf die Weltpolitik und auch Herrscher in Europa, die Hass auf Minderheiten schürten. Von der Machtergreifung bis zum Pogrom habe es fast sechs Jahre gebraucht.

Rabbiner Wagner nannte den 9. November 1938 einen Test, einen Versuch der Nazis, wie die Welt reagieren würde, wenn in einer Nacht so viele Synagogen brennen. „Die Welt hat geschwiegen. Und die Nazis haben verstanden“, sagte er. „Ein Flugzeug, das eine Bombe auf die Schienen nach Auschwitz geworfen hätte... Doch die Welt hat geschwiegen.“ Er berührte die Hörenden mit der Geschichte einer nicht-jüdischen Ukrainerin, die während des Nationalsozialismus ein jüdisches Mädchen versteckt und gerettet hatte. Die Enkelin der Geretteten lebt heute in Israel. Als die Russen im Februar den Angriffskrieg starteten, habe sie erfahren, dass zwei Enkelinnen dieser Ukrainerin mitten im Kriegsgebiet säßen. Sie habe alles unternommen und die Mädchen nach Israel geholt. Mit dem Willen, etwas zu verändern, könne jeder Mensch Botschafter der Wahrheit, der Liebe und der Hoffnung werden.

Mehr als 60 Männer sind in jener Nacht 1938 in Krefeld verhaftet worden, berichtete Sandra Franz, 50 davon nach Dachau deportiert. „Hier hat die Radikalisierung begonnen.“ Die Synagogen brannten, während die Martinszüge daran vorbeizogen. Die Lehre aus der Geschichte sei: „Laut Nein zu sagen - bevor es zu spät ist“.

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