Krefeld Historischer Schatz über Krefelder Sozialgeschichte gesichert

Krefeld · Es war ein Zufallsfund: Sogenannte Tagebücher der Bahnhofsmission sind jetzt aus dem Sütterlin übertragen und dem Stadtarchiv übergeben worden.

 Schwieriges Sütterlin: In einem separaten Band (Foto) finden sich jeweils auf der linken Seite die Originaltagebücher und rechts die gedruckte Transkription.

Schwieriges Sütterlin: In einem separaten Band (Foto) finden sich jeweils auf der linken Seite die Originaltagebücher und rechts die gedruckte Transkription.

Foto: Andreas Bischo/Andreas Bischof

Der Leiter des Krefelder Staatsarchivs, Olaf Richter, freut sich. Mit Übergabe der Tagebücher der Bahnhofsmission Krefeld aus den Jahren 1926 bis 1932 ist ein kleines Stück deutscher Sozialgeschichte  bewahrt. Annelie Plümer, Koordinatorin der Bahnhofsmission Krefeld, und Ludger Firneburg, Geschäftsführer der Diakonie Krefeld und Viersen, übergaben dem Stadtarchiv die Tagebücher zur historischen Aufarbeitung.  Die in Sütterlin geschriebenen Tagebücher wurden in neudeutsche Schrift übertragen und in einem Transkript abgedruckt. In digitaler, übersetzter und originaler Fassung stehen die Tagebücher der Öffentlichkeit zur Verfügung.

Die Tagebücher sind 2016 bei Aufräumarbeiten in der Bahnhofsmission entdeckt worden. Plümer und ihren Mitstreitern war rasch klar, dass sie einen kleinen historischen Schatz entdeckt hatten: Quellen zur Bahnhofsmission aus jener Zeit sind rar. Zudem stand das Jubiläumsjahr 2017 vor der Tür, in dem die Krefelder Bahnhofsmission ihren 110. Geburtstag feierte. Plümer kam seinerzeit auf eine ungewöhnliche Idee, die Tagebücher zu übersetzen: Sie arbeitete mit Senioren aus dem Hanseanum zusammen, die Sütterlin in ihre Kindheit gelernt hatten (wir berichteten damals).

 Übergabe der historischen Tagebücher ans Stadtarchiv: Archivleiter Olaf Richter, sein Vize Christoph Moß, Ludger Firneburg von der Diakonie und Annelie Plümer von der Bahnhofsmission.

Übergabe der historischen Tagebücher ans Stadtarchiv: Archivleiter Olaf Richter, sein Vize Christoph Moß, Ludger Firneburg von der Diakonie und Annelie Plümer von der Bahnhofsmission.

Foto: Andreas Bischo/Andreas Bischof

„Es war ein hartes Stück Arbeit, weil die Schrift teilweise kaum lesbar war,  aber es hat sich gelohnt. Die Tagebücher geben einen spannenden Einblick in die Sozialgeschichte der ausgehenden Weimarer Jahre wieder. Die Aufzeichnungen machen den Alltag der Menschen dieser Zeit ein Stück weiter greifbarer“, sagt Richter.

Die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Bahnhofsmission – meistens aus den gehobenen Schichten – notierten jede ihrer Tätigkeiten, um die Kollegen der folgenden Schicht zu informieren, was alles passiert ist. Pro Jahr kamen 800 bis 900 Einträge zusammen.  Der erste Band umfasst den Zeitraum von April 1926 bis Dezember 1929 und hat 200 Seiten. In Anschluss an den ersten Band umfasst der zweite Band den Zeitraum ab Januar 1930 bis Mai 1932 und hat 150 Seiten. Einige Seiten der Tagebücher wurden herausgerissen und fehlen. Warum dies getan wurde, kann von den Experten des Stadtarchivs nicht beantwortet werden.

  Die karitative Hilfe dieser Zeit erlaubt Einblicke in die damalige Gesellschaft. „Der Bahnhof war das Tor zur Stadt und hatte schon immer einen besonderen  gesellschaftlichen Stellenwert“, sagt Annelie Plümer. Die Tätigkeiten der Bahnhofsmission spiegeln auch die gesellschaftliche und wirtschaftliche Not dieser Jahre wider: „Anna Woybelko kam von Gütersloh nach Krefeld-Linn zu jüdischer Herrschaft. Dort konnte sie sich nicht schicken. Sie übernachtet im Marthaheim, um morgen hier oder in Essen neue Stelle zu suchen“, heißt es in einem Eintrag.

  Die Bahnhofsmission trennte streng die Hilfsbedürftigen nach ihren Konfessionen auf, und dies wurden in den Einträgen auch vermerkt.  „Trotz konfessioneller Trennung bekam jeder Hilfe, der in Not war“, erklärt Ludger Firneburg. Neben gesamtgesellschaftlichen Aspekten ist es auch ein Zeitdokument Krefelds und der sozialen Einrichtungen. „Es ist faszinierend zu sehen, wie damals schon die ganzen Einrichtungen so gut untereinander vernetzt waren“, sagt Richter. Die Krefelder Bahnhofsmission konnte auf ein deutschlandweites Netzwerk von Zweigstellen zurückgreifen und so hilfsbedürftigen Menschen auch über die Stadtgrenzen hinaus helfen. Innerhalb Krefelds stand der Bahnhofsmission eine große Bandbreite von kommunalen und sozialen Einrichtungen zur Verfügung.

Kurz nach der nationalsozialistischen Machtergreifung stellten die meisten Bahnhofsmissionen auf Druck der Nazis ihre Arbeit weitestgehend ein.

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