Krefeld Kirschgarten als Parabel für Krefelds Krise

Krefeld · Tschechows Stück zeigt Menschen, die in einer existenziellen Krise nicht handeln. Das Wasser spiegelt die Bedrohung, die sie ignorieren. Die symbolträchtige Inszenierung von Matthias Gehrt und Gabriele Trinczek ist hochaktuell.

 Kaffeepause statt Krisengipfel, auch wenn das Wasser bedrohlich steigt: (v.l.) Johanna Geißler, Eva Spott, Daniel Minetti, Matthias Oelrich und Paul Steinbach.

Kaffeepause statt Krisengipfel, auch wenn das Wasser bedrohlich steigt: (v.l.) Johanna Geißler, Eva Spott, Daniel Minetti, Matthias Oelrich und Paul Steinbach.

Foto: Matthias Stutte

Anton Tschechow hatte eine Komödie geplant, bei der die Leute "viel und laut lachen, und natürlich wird niemand wissen, worüber". So hat er 1903 in einem Brief den "Kirschgarten" angekündigt. Der Plan ist gründlich fehlgeschlagen — das letzte Stück des russischen Schriftstellers, der 1904 — kurz nach der Uraufführung — 44-jährig starb, ist tieftraurig. Melancholie lastet auch schwer in der Inszenierung von Matthias Gehrt, die jetzt am Theater Premiere hatte. Das Stück über Menschen in der Krise spiegelt Verhaltensmuster, die durch die geplatzte Sparrunde in Krefeld noch ein Schippchen an Aktualität zugelegt haben: Die Rationalen wollen nach vorn, ohne Rücksicht auf humanistische Werte; die Schöngeister wollen bewahren, was sie sich nicht mehr leisten können. Und wenn niemand handelt, kommt das dicke Ende.

Knöcheltief stehen die Akteure im Wasser auf Gabriele Trinczeks Bühne. Bei jedem Schritt spritzt und platscht es. Das ist kein Spaß. Jedem steht eigentlich das Wasser bis zum Hals. Die modisch zeitlosen Kostüme (von Elisabeth Strauß) saugen sich im Laufe des Abends voll, werden sichtlich schwerer, so belastend wie die Sorgen, die alle Figuren drücken. Es geht um Existenzen: Das Gut mit dem prächtigen Kirschgarten ist überschuldet — und verloren. Wenn Ljubov (Eva Spott) und ihr Bruder Leonid (Daniel Minetti) über die Pracht des Gartens und ihre verklärten Kindheitserinnerungen reden, geht ihr Blick über das Publikum hinweg in eine unbestimmte Ferne. Sie sehen den Realitäten nicht ins Auge, sie flüchten sich in Träume: Für Leonid sind Bonbons und Billard wichtig und vage Hoffnungen auf Erbschaft oder Lottogewinn, Ljubov treibt nur die Suche nach Liebe um. Allein der Kaufmann Lopachin (Paul Steinberg) macht einen konstruktiven Vorschlag: abholzen, Ferienhäuser bauen, verpachten. Doch der Sohn aus einer Familie leibeigener Bauern ist zu Freiheit und Geld gekommen. Das macht ihn nicht gerade zum vertrauenseinflößenden Ratgeber.

Während alle durchs Wasser waten und auf den Untergang zusteuern, passiert nichts. Alle reden pausenlos aneinander vorbei. Die Kreise und Wellen, die jede Bewegung auf der Wasseroberfläche in Gang setzt, reflektieren im Theatersaal. Ein schöner Effekt, und so folgenlos wie die Parolen, die Tschechows Personal herausgibt. Alles kreist nur um sich selbst.

Die Schauspieler zeigen die kleinen und großen Macken der Charaktere mit Gespür fürs Detail. Eva Spott legt als vom Ruin bedrohte Gutsbesitzerin die Verachtung der Realität in ein einziges Wort "Datschen". Lieber rennt sie fort und einer unglücklichen Liebe hinterher.

Unglücklich sind alle Figuren. Wenn sie sich zwischendurch auf die wenigen antiken Möbel retten, die im Wasser stehen, wirken sie wie Einsame auf einer Insel, isoliert von allen anderen: Anja (Helen Wendt) und Varja (Johanna Geißler), die unglücklich liebenden Töchter Ljubovs, wie der "ewige Student" Trofimov (Cornelius Gebert), der mit seinem Leben nicht klarkommt. Und auch Lopachin ist zerrissen. Er wird am Ende den Kirschgarten — von dem er ewig geträumt hat — erwerben. Aber er spürt, dass er sich Ansehen nicht erkaufen kann. "Einmal Bauer, immer Bauer", sagt er.

Herzenswärme fehlt in diesem Heim, dessen Unbehaglichkeit sich auch im Wasser spiegelt. Deshalb bleiben die Figuren unterkühlt, ihr seelisches Elend hält auf Distanz, auch wenn sie alle eindrucksvoll gespielt sind. Die menschlichste Gestalt ist der alte Diener Firs. Matthias Oelrich spielt den von einem harten Leben als Leibeigener seelisch und körperlich Gezeichneten. Er sorgt sich wie eine Mutter, dass seine Brotgeber auch warm genug gekleidet sind. Als der Kirschgarten verkauft ist und alle in eine ungewisse Zukunft aufbrechen, legt er sich ins Wasser. Er geht mit der alten Zeit unter.

Das Publikum bedachte Regieteam und Schauspieler gleichermaßen mit Applaus. In weiteren Rollen: Joachim Henschke, Esther Keil, Christopher Wintgens, Henrike Hahn und Ronny Tomiska.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort