Krefeld Im multimedialen Lyrikrausch

Krefeld · Gedichte des Expressionismus können klingen wie moderne Popsongs: Das Kresch-Theater weckt mit "Du musst Caligari werden" die Lust auf Lyrik von Else Lasker-Schüler und ihren Zeitgenossen mit einer bunten Medien-show.

 Franz Mestre (r.) jongliert mit Sprache, setzt auf Rhythmik und Wortwitz. So fordern die Gedichte das Ohr - aber die Augen bekommen in der Kresch-Multimedia-Show "Du musst Caligari werden" auch jede Menge geboten.

Franz Mestre (r.) jongliert mit Sprache, setzt auf Rhythmik und Wortwitz. So fordern die Gedichte das Ohr - aber die Augen bekommen in der Kresch-Multimedia-Show "Du musst Caligari werden" auch jede Menge geboten.

Foto: Kreschtheater

Vor allem für das Ohr ist der Abend eine Frischzellenkur. In "Du musst Caligari werden!" geben die beiden Schauspieler Franz Mestre und Heiko Obermöller der apokalyptischen Lyrik des Expressionismus eine neue Stimme. Vor schnell geschnittenen Videobildern fangen sie das beklemmende Lebensgefühl der 1920er Jahre ein. Hierfür finden sie eine eigene Interpretation, die nicht das Düstere unterstreicht, sondern viel Raum für Wortwitz und Komik lässt und vor allem Jugendlichen die Lyrik des Expressionismus näherbringen soll. Die jüngste Kresch-Theater-Produktion hatte jetzt Premiere in der Fabrik Heeder.

Wild jonglieren Mestre und sein Kollege Obermöller mit Sprachfetzen, Konjugationen und Satzbau. Gleich zu Beginn des Stücks rauscht es nur so vor paradoxen Formulierungen, wie "ein blonder Jüngling mit kohlrabenschwarzem Haar", die im Ohr des Zuschauers, der an diesem Abend ganz besonders als Zuhörer gefragt ist, mehr als nur ungewohnt klingen. Doch genau auf dieses geräuschvolle Stolpern kam es Dichtern der expressionistischen Lyrik wie Else Lasker-Schüler, Jakob van Hoddis und Gerhard Hauptmann an. Sie rangen um neue Ausdrucksmöglichkeiten, fügten in ihren Gedichten Widersprüchliches zusammen und verwischten die Grenzen zwischen Schein und Wirklichkeit. Die musikalische Performance im Kresch ist ein geeignetes Mittel, um die Lyrik des Expressionismus zum Leben zu erwecken.

Mestre und Obermöller sind an diesem Abend beide Caligari. In weißen Arztkitteln und schwarzen Rollkragenpullovern geben sie jeweils vor, der andere zu sein: "Ich spiele du, spielen wir?", sagen sie und blicken sich dabei versichernd und gleichzeitig fragend an. Das lustvolle Verwechslungsspiel nimmt einen Gang, der alles andere als typisch oder vorhersehbar verläuft. Denn als Bindeglied zwischen den kurzweiligen Rezitationen tauchen expressionistische Gedichte, wie zu Beginn des Stücks die beiden Gedichte "Weltende" - eines von Lasker-Schüler (1905) und eines von Jakob van Hoddis (1911) - im eingängigen Gewand des Popsongs auf und lassen alles Staubige und vermeintlich Sperrige hinter sich. Ein ungewöhnliches, mutiges, doch lohnenswertes Experiment, das die beiden Schauspieler hier mit dem Musiker Michael C. Kent eingehen. Beide Schauspieler sind auch ausgesprochen gute Sänger. Aus voller Lunge singt vor allem Obermöller den Refrain Weltende, zu den Zeilen von Lasker Schüler: "Es ist ein Weinen in der Welt, als ob der liebe Gott gestorben wär. Und der bleierne Schatten, der niederfällt, lastet grabesschwer", während Mestre die Körpersprache des Grotesken und Verzerrten wunderbar beherrscht.

Und weil Popsongs nicht ohne Videoclips daherkommen, hat Mestre neben Bühnenbildner Frank Andermahr zugleich den Videokünstler Ludwig Kuckartz mit der Kreation von bewegten Bildern beauftragt. Kuckartz projiziert einzelne Buchstaben und Filmzitate an die weiße Wand, ebenso wie Meilensteine der expressionistischen Kunst wie Munchs "Der Schrei" und Schwarz-Weiß-Porträts von Wegbegleitern, die der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg eine Stimme gaben.

Die Bühne ist als klassische Guck-Kastenbühne angelegt, verengt sich jedoch nach hinten immer mehr, und birgt eine Enge, die die Schauspieler in ihrem circa 60-minütigen Spiel wunderbar nutzen. Der Boden ist schwarz-weiß gekachelt und lässt Raum für das (Gedanken)-Spiel mit Gegensätzen. Trotz der Schwere der Themen der Zeit wie das Leben in der Großstadt, Angst, Ich-Zerfall, Krieg und Fremde ist der Tenor des Stücks dennoch heiter und über lange Strecken sehr komisch und unterhaltsam.

Das Ergebnis ist ein rauschendes und buntes multimediales Gesamtkunstwerk, das für das Auge und Ohr der Zuschauer nicht immer leicht zu packen ist (die Songtexte sollten den Zuschauern zum Nachlesen mitgegeben werden), aber dafür umso fordernder.

"Du musst Caligari werden", geeignet für Zuschauer ab 14 Jahre; Kreschtheater, nächste Vorstellung am Mittwoch, 4. Juli, 20 Uhr, Studiobühne II, Fabrik Heeder, Virchowstraße 130.

(RP)
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