Krefeld "Heimat ist kein Land, Heimat ist Literatur"

Krefeld · Als Mohei Aldin Alhaj Syrien verließ, fiel es ihm besonders schwer, seine Bücher zurückzulassen. Seit zwei Jahren lebt er in Deutschland. Zurzeit steht er als Statist im Theater hintenlinks auf der Bühne.

 Romane und Theaterstücke bedeuten ihm viel: Mohei Aldin Alhaj liebt die Bühne und schreibt Stücke - zurzeit noch auf Arabisch.

Romane und Theaterstücke bedeuten ihm viel: Mohei Aldin Alhaj liebt die Bühne und schreibt Stücke - zurzeit noch auf Arabisch.

Foto: ped

Am Anfang war Mohei Aldin Alhaj einer von vielen. Der Syrer wollte eine Rolle als Statist im Theater hintenlinks (THL). "Beim Casting war er herausragend mit seiner Körperspannung und Bühnenpräsenz", sagt Theaterleiter Peter Gutowski. Das war nicht verwunderlich. Denn der 44-Jährige hat eine Theatervergangenheit. In Damaskus hat er Stücke für Kinder gespielt und inszeniert, ist mit mobilen Produktionen durch Kindergärten und Schulen gereist, hat im Theater Shakespeare-Stücke in arabischer Sprache aufgeführt, Kurzgeschichten und Stücke geschrieben. Als Hobby. "Es ist mein Ausgleich", sagt Alhaj. Denn eigentlich ist er Maschinenbauingenieur. Und in seinem Beruf sucht er nun eine Arbeitsstelle.

"Das ist sehr schwierig, obwohl mein Studium und meine 15-jährige Arbeit anerkannt sind", sagt er. Deshalb ist das Theater seine Stütze. "Es war immer mein Traum", aber nach dem Abitur habe er keinen Platz an der Schauspielschule in Damaskus bekommen. "Als ich vor zwei Jahren mit meiner Familie nach Deutschland kam, habe ich überall gefragt, ob es eine Möglichkeit gibt, hier Theater zu spielen: im Kindergarten meiner Tochter, in der Schule meines Sohnes." Dann kam der Aufruf des THL, das für seine Wiedereröffnung "Zombie"-Statisten suchte. Inzwischen gehört Alhaj fest zum Spielplan. In Gogols "Tagebuch eines Wahnsinnigen" ist er als Alter Ego des Protagonisten Aksenti, dargestellt von Anuschka Gutowski, zu sehen und zu hören - auch mit einem arabischen Schlaflied.

Dass er an das Hinterhoftheater geraten ist, das seine künstlerische Neuorientierung unter das Thema "Arbeitswelten" gestellt hat, ist ebenso zufällig wie passend. Während literarisch im Stück und dokumentarisch im Film "Frohes Schaffen" Burnout und die Frage, ob Arbeit inzwischen als zu hohes Gut betrachtet wird, behandelt werden, ist für Alhaj Arbeit wichtig: "In erster Linie, um Geld zu verdienen für die Familie. In Syrien ist es nicht leicht, einen Job zu finden. Viele haben dort zwei Jobs, fahren am Nachmittag Taxi. Es kommt nicht darauf an, ob man sich im Beruf wohlfühlt."

In Syrien hat er eine verantwortungsvolle Stelle gehabt, gut verdient. "Die Firma und alle Kollegen gibt es noch. Aber wir sind gegangen, weil wir eine Zukunft für die Kinder wollten", erzählt Alhaj. Die eigene Wohnung, die der Eltern und der Geschwister seien zerstört worden. Und dann die Angst. Noch lange in Deutschland haben die Kinder sich gefürchtet, wenn irgendwo ein Hubschrauber zu hören war.

An seinen letzten Tag in Syrien kann er sich gut erinnern. "Es war der 3. Juli 2015." Er hatte lange gezögert, die Heimat zu verlassen. "Ich musste fast 400 Bücher zurücklassen, die mir sehr viel bedeuteten." Auch die Oud, eine orientalische Laute, blieb in Damaskus. Nur das Wichtigste konnte die Familie einpacken: Geld, Pässe und jeweils ein Spielzeug für die Kinder. "Mein Sohn hängt an seiner Mickey Maus, die neun Jahre ist - so alt wie er." Mit dem Bus ging es in den Libanon, von dort mit dem Boot in die Türkei und nach Griechenland, dann weiter zu Fuß. Eine Strapaze für die Familie. Die vierjährige Tochter und den Rucksack mit den so wichtigen Habseligkeiten wogen schwerer mit jedem Kilometer. Er redet nicht gern über die Nächte, in denen sie Wälder durchquerten - immer in der Angst, entdeckt zu werden. Nächte, die so dunkel waren, dass er sich - als Letzter einer Gruppe von 50 Leuten - nur an dem leuchtenden Weiß des Kopftuchs seiner Frau orientieren konnte. In Ungarn auf dem Weg zur österreichischen Grenze sammelten Schleuser sie auf. Endlos lange Stunden ohne Luft, eingepfercht in einen Kühlwagen. "Und die Leute erzählten von Flüchtlingen, die in diesem Auto gestorben waren."

Trotz allem: Gibt es Heimweh? "Ja", sagt Alhaj. "Aber Heimat ist kein Land. Meine Heimat ist Literatur. Meine Bücher vermisse ich." Die arabischen Romane in der Mediothek sind ein begrenzter Ersatz. Niemand von seiner Familie lebt mehr in Syrien. Die elf Geschwister sind verteilt auf viele Länder, einige in Deutschland, einige in der Türkei. In Krefeld wird bald das dritte Kind der Alhajs zur Welt kommen. Hier ist jetzt Zuhause.

Für Menschen, die ebenfalls ihre Heimat verlassen haben, schreibt Alhaj Geschichten und gibt Tipps zur Integration. Das Wichtigste und zugleich das Schwierigste ist die Sprache, findet er. "Man muss Menschen kennenlernen, nicht herumsitzen, sondern sich öffnen und hingehen, wo man deutsch sprechen kann - in Sportvereine, in Theatergruppen." Oder in Seniorenheime. Dort ist er regelmäßig. "Ich kann meine Geschichte erzählen. Reden. Viele verstehen. Die Senioren haben auch Erinnerung an Krieg."

Nächste Aufführungen von "Tagebuch eines Wahnsinnigen": 4. und 5. Mai, 19.30 Uhr, 6. Mai, 17 Uhr. Kartentelefon: 02151 602188.

(RP)
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